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Rein oder raus? Zwei Fußballfanatiker kämpfen um ihren Platz in einer Ultra-Gruppe. Francesco Lettieri macht daraus eine spiegelverkehrte Coming-of-Age-Geschichte – nicht nur für Fans des runden Leders.

Über das Ergebnis hinaus (2020)

Eine Filmkritik von Falk Straub

Fragile Fans

In der Corona-Krise macht auch der Sport erst einmal Pause. Die Spielbetriebe in unzähligen Ligen wurden vorzeitig beendet oder auf unbestimmte Zeit vertagt, die Fußball-Europameisterschaft und die Olympischen Spiele in Tokio sind verschoben. Wer trotzdem nicht auf Stadion-Atmosphäre verzichten möchte, hat in Francesco Lettieris Langfilmdebüt die Gelegenheit, in den Fußballkosmos einzutauchen. Ums eigentliche Geschehen auf dem grünen Rasen geht es darin allerdings nicht.

Der Originaltitel Ultras gibt die Richtung vor: Lettieris Drehbuch dringt tief in eben jenen harten Kern der Fanschar, der durch Schmähungen gegen Milliardär und Mäzen Dietmar Hopp die Fußballberichterstattung in Deutschland just zu dem Zeitpunkt dominierte, als das Virus die schönste Nebensache der Welt unmöglich machte. Wie für ihre deutschen Kollegen ist der Trubel rund um die Spieltage auch für die hier porträtierten süditalienischen Ultras keine Neben-, sondern die Hauptsache.

Der Teenager Angelo (Ciro Nacca) wurde in die Fanszene hineingeboren. Schon sein älterer Bruder gehörte den „Apachen“ an und ließ für seine Gruppierung sein Leben. An den Heimspieltagen klettert Angelo gemeinem mit seiner Clique über eine Mauer ins ebenso marode wie altehrwürdige Stadio San Paolo der SSC Neapel. Jener heilige Ort, an dem Diego Maradona die Azzurri zu ihren letzten großen Triumphen führte. Endlich ist die erste Meisterschaft seit beinahe drei Jahrzehnten greifbar. Im Stadioninneren geben die Capos Pechegno (Simone Borrelli) und Gabbiano (Daniele Vicorito) den Ton an und verweisen die Jungen auf ihre Plätze.

Die Alten müssen derweil draußen bleiben. Mit Stadionverboten belegt, tanzen „Apachen“-Gründungsmitglieder wie Sandro (Aniello Arena) - Spitzname: der Mohikaner - während der Spieltage auf der Polizeistation an, um ihren Friedrich Wilhelm unter eine Liste zu setzen. Behördliche Kontrolle statt Fußballfest. Zu allem Überfluss schwindet ihr Einfluss. Pechegno und Gabbiano bereiten eine stille Übernahme vor, was Ultra-Urgesteine wie der wuchtige Barabba (Salvatore Pelliccia) nicht länger auf sich sitzen lassen wollen.

Der Ausgang dieses Konflikts lässt sich besser vorhersehen als das Ergebnis manches Spitzenspiels. Lettieri legt ein inhaltlich vielfältiges, aber erzählerisch einfaches und erwartbares Debüt über ein komplexes Thema vor. Sein Drama ist eine Milieustudie über eine wirtschaftlich abgehängte Region, ein Blick auf (toxische) Männlichkeit und Machismo, eine Liebesgeschichte, vor allem aber ein (ver)doppelter Coming-of-Age-Film.

Angelo steht an der Schwelle zum Erwachsensein und will voll einsteigen in eine Gruppe, die ihm den Halt bietet, den er zu Hause vermisst. Sandro ist knapp 50, nie richtig erwachsen geworden und wagt den Ausstieg, weil ihm seine Gruppe inzwischen mehr Ärger einbrockt, als sie ihm Geborgenheit gibt. Zufallsbekanntschaft Terry (Antonia Truppo) soll Sandros Ticket in die Freiheit sein. Doch die alleinerziehende Mutter muss den „Neandertaler“, als den sie ihn einmal im Streit beschimpft, erst einmal zivilisieren.

Mit seinem Debüt gelingen dem Regisseur zwei kleine Kunststücke: ein Film, der den Fußball mit jeder Pore aufsaugt, ohne auch nur ein einziges Fußballspiel zu zeigen, und ein glaubhaftes Bild einer Fanszene ohne die Mithilfe echter Ultras. Die Spieltage bis zum möglichen Meistertitel bleiben Randgeräusche. Die Gruppe der „Apachen“ ist frei erfunden.

Gianluca Palmas Arbeit trägt viel zur dichten Atmosphäre bei. Mal stürzt sich seine Kamera mitten ins Getümmel, mal vollführt sie elaborierte Manöver unter Neapels wärmender Sonne. Das eigentliche Highlight sind jedoch die Typen, die Lettieri vor Palmas Kamera versammelt hat. Echte Charakterköpfe und viel näher am echten Leben als das, was Hollywood gern als authentisch verkauft.

Sie verkörpern Männer auf der Suche, die die eigene Unsicherheit mit verbaler und körperlicher Gewalt überspielen. Männer, die den Absprung nie geschafft haben, deren einziger Lebensinhalt der Fußball und ihre Fan(un)kultur ist und die ihren Rang in der Hackordnung dementsprechend mit Zähnen und Klauen verteidigen. Hier hat sich ein Stück archaische Welt voll martialischer Gesten und voller Stammesdenken erhalten. Deren Rituale und Gesänge machen ein teils gruseliges Gemeinschaftsgefühl spürbar.

Lettieris Debüt beginnt und endet mit einer Feier. Am Anfang steht eine Hochzeit, am Ende eine Beerdigung. Diesem Tod wohnt auch ein Neuanfang inne – so zumindest die hoffnungsvolle Interpretation, mit der der Regisseur sein Publikum entlässt.

Über das Ergebnis hinaus (2020)

Eine Coming-of-Age-Geschichte über eine Freundschaft zwischen zwei Generationen in der Welt der Ultras in den letzten fünf Wochen einer Fußballmeisterschaft.

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