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In „Quitter la nuit“ zeigt Delphine Girard die Folgen einer Nacht für drei Figuren, deren Leben plötzlich erschüttert wird.

Through the Night (2023)

Eine Filmkritik von Andreas Köhnemann

Was geschah in der Nacht?

In ihrem Kurzfilm „Une sœur“ (2018) folgte die 1990 in der kanadischen Stadt Longueuil geborene Drehbuchautorin und Regisseurin Delphine Girard der jungen Lehrerin Aly (Selma Alaoui), die sich im Auto ihres flüchtigen Bekannten Dary (Guillaume Duhesme) befindet und auf ihrem Handy den Notruf wählt, da sie sich bedroht fühlt. Während sie mit Anna (Veerle Baetens) spricht, einer Mitarbeiterin in der Notrufzentrale, versucht Aly, vor dem aggressiven Dary den Eindruck zu erwecken, sie plaudere lediglich mit ihrer Schwester, bei der gerade ihr Kind übernachtet.

Für ihr Langfilmdebüt Quitter la nuit hat Girard diesen 17-Minüter, für den sie 2020 eine Oscar-Nominierung und einige Preise erhielt, nun ausgebaut und erzählt zudem (mit identischer Besetzung und auch vielen Übereinstimmungen hinter der Kamera), wie es nach der titelgebenden Nacht für alle drei Beteiligten – den Fahrer, die Beifahrerin und die Frau in der Zentrale – weitergeht.

Dass Girards Kurzfilm eine derart positive Resonanz erfuhr, lässt sich sehr leicht nachvollziehen. Denn der Auftakt im Auto und an Annas Arbeitsplatz erzeugt eine enorme Spannung. Die Wege, die Aly und Anna finden, um alle nötigen Informationen auszutauschen, ist überaus beeindruckend. Weil Aly in Darys Anwesenheit nicht frei sprechen kann, müssen die Details möglichst beiläufig abgeklärt werden – hauptsächlich durch einfache Ja-Nein-Fragen oder durch indirekte Botschaften. Unterdessen wird Alys Telefon geortet, damit rasch Hilfe geschickt werden kann.

Doch nicht nur dieser virtuos inszenierte und intensiv gespielte Anfang ist gelungen; auch die sich anschließende Geschichte ist einnehmend. Wir lernen die jeweilige Lebenssituation von Aly, Dary und Anna kennen. Wie Aly mit ihrer kleinen Tochter und ihrer Schwester Lulu (Adèle Wismes) den Alltag zu bewältigen versucht. Wie sich der als Feuerwehrmann tätige Dary bemüht, die zurückliegenden Geschehnisse mit seinem Selbstbild zu vereinbaren – unterstützt von seiner dominanten Mutter Laurence (verkörpert von der wunderbaren Anne Dorval, die durch ihre wiederholte Zusammenarbeit mit Xavier Dolan, etwa in I Killed My Mother und Mommy, über reichlich Erfahrung mit resoluten Mutterfiguren verfügt). Und wie Anna durch ihre Schichten den Tag zur Nacht und die Nacht zum Tage machen muss – und die Eindrücke in ihrem Job in der Freizeit dann äußerst schwer loslassen kann.

In seiner Atmosphäre, gekonnt erfasst von Kamerafrau Juliette Van Dormael, erinnert der Film an Mikhaël HersPassagiere der Nacht (2022), der die Melancholie im urbanen Raum ähnlich stimmig einzufangen vermochte. Auch André Téchinés Krimidrama Diebe der Nacht (1996) kommt in den Sinn. Die Musik von Ben Sheime trägt ebenso zur Sogwirkung der Inszenierung bei wie die häufige Verwendung von Nahaufnahmen, die keine Distanz zum Gezeigten erlauben.

Das Werk macht deutlich, wie ernüchternd und geradezu unerträglich es für eine Person, die Opfer eines Gewaltverbrechens wurde, ist, wenn ihr im Nachhinein noch nicht einmal geglaubt wird. Bei der Befragung durch eine Polizistin (Florence Janas) verliert Aly schnell die Zuversicht, dass sie mit ihren Aussagen etwas erreichen kann. Mehr und mehr verschließt sie sich vor den Behörden, wodurch ihre Sicht der Dinge weiter in Zweifel gezogen wird. In Rückblenden kehren wir derweil immer wieder zu dem Abend zurück, der mit Alys Notruf endete. Girard und Van Dormael finden schließlich ein starkes Schlussbild für einen Film, der einerseits die Mängel eines Rechtssystems demonstriert und andererseits Hoffnung in der Solidarität erkennt.

Gesehen beim Internationalen Filmfestival von San Sebastián.

Through the Night (2023)

Eines Nachts ruft eine Frau in Gefahr die Polizei. Anna nimmt den Anruf entgegen. Ein Mann wird verhaftet. Wochen vergehen, die Gerichte suchen nach Beweisen und Aly, Anna und Dary sehen sich mit den Echos dieser Nacht konfrontiert, die sie nicht hinter sich lassen können.

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