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Ein Chef, der sich für perfekt hält, kann natürlich niemals vollkommen sein. Aber Javier Bardems Figur hat noch ganz andere Macken als nur ihre Eitelkeit in einer höchst amüsanten Komödie mit doppeltem Boden, die sich in Spanien zum Hit avancierte. 

Der perfekte Chef (2021)

Eine Filmkritik von Peter Gutting

Wenn die Waage verrückt spielt

Welche Welten können doch zwischen 20 Jahren liegen: 2002 drehte der spanische Regisseur Fernando León de Aranoa die sozialrealistische Tragikomödie „Montags in der Sonne“. Javier Bardem spielte damals einen Arbeitslosen mit großer Klappe. Zwei Jahrzehnte später mimt derselbe Schauspieler einen Chef mit großer Klappe, wieder in einer Komödie mit gesellschaftskritischen Anklängen. Doch der Seitenwechsel ist nicht das Entscheidende. Viel frappierender erscheinen die Veränderungen der Arbeitswelt, die sich seit damals vollzogen haben. Die Solidarität unter den Geschassten, die dem Film einen ähnlich warmherzigen Ton verlieh wie drei Jahre später dem Nachfolger „Prinzessinnen der Straße“, ist im neuen Werk wie verflogen. Nichts mehr von Gegenwehr und Zusammenhalten. Nur der Chef selbst, als alleiniger Verwalter des einstigen Klassengegensatzes, kann die eigene Macht verstolpern. Und das tut er in sehenswerter Herzenslust in der Erfolgskomödie aus Spanien, die den dortigen Filmpreis „Goya“ in vier der wichtigsten Kategorien gewann — und für 20 nominiert war.

Die Waage ist sein Augapfel. Wenn Firmenchef Julio Blanco (Javier Bardem) mit seinem Jaguar durchs Firmentor rollt, hat er immer einen Blick auf das altertümliche Gerät mit den zwei Schalen. Alles muss exakt im Gleichgewicht sein. Schon aus Dankbarkeit gegenüber seinem Vater, von dem Blanco die mittelständische Waagenfabrik mit ein paar Hundert Mitarbeitern geerbt hat. Aber auch, weil das Wiegeinstrument zugleich eine Metapher ist. Der Inhaber und Geschäftsführer hat es gern ausgeglichen und harmonisch. Die Firma ist seine Familie, die Mitarbeiter betrachtet er als Kinder. Zwar kommt es schon mal vor, dass man manche Kinder lieber hat als die anderen, besonders wenn sie jung, weiblich und hübsch sind. Und zu Blancos Familienleben gehören natürlich auch Abschiede. Um die Finanzlage wieder ins Gleichgewicht zu bringen, schickt man einige hinaus in die Welt – damit sie neue Erfahrungen machen, sich weiterentwickeln, Chancen beim Schopf packen. Eine Familie bringt sowas nicht um. Warum also zum Teufel sollte Blanco, der sich für den perfekten Chef hält, nicht den Preis für exzellente Unternehmensführung gewinnen? 

In sieben Tagen schuf Gott die Welt. Und sieben Tage, die der Film umfasst, hat Blanco Zeit, der Preis-Kommission, die jede Minute unangemeldet vor der Tür stehen kann, seine Familienharmonie zu präsentieren. Dumm nur, dass bereits an Tag zwei ein kleiner Vogel die historische Waage am Firmeneingang in Schieflage versetzt. Noch schlimmer führen sich die menschlichen Störenfriede auf: der außer Kontrolle geratene Ex-Mitarbeiter José (Óscar de la Fuente), der vor dem Fabriktor campiert und lautstark Parolen gegen seine Entlassung skandiert; der durch eine Ehekrise schlingernde Produktionsleiter Miralles (Manolo Solo), der wegen seines chaotischen Lebens wiederholt die ganze Fabrik stillstehen lässt; und überdies die neue Praktikantin Liliana (Almudena Amor), die die interessierten Blicke des Chefs mit koketten Anspielungen kontert. Alle drei episodenhaft verschlungenen Handlungsstränge sind gefundene Fressen für den 55-jährigen, der Boss, Kumpel und Papa zugleich sein will. Und der mit seiner Übergriffigkeit, die tief ins Privat- und sogar Intimleben reicht, nur noch mehr Chaos stiftet.

Auf dem Papier ist das der ideale Stoff für boulevardeskes Ping-Pong. Aber Fernando León de Aranoa verweigert sich dem Schenkelklopfen allein schon durch seine detailverliebte Genauigkeit. Die weitgehend sozialrealistische Kamera von Pau Esteve Birba nimmt neben und hinter den Protagonisten immer auch Hintergründe und Nebenschauplätze mit in den Blick: die Arbeitsbedingungen in der Fabrik, der Luxus in Blancos weitläufigem Anwesen, aber auch die herablassenden Untertöne in Köpersprache und Mimik des Chefs. Dennoch muss eines spätestens jetzt klargestellt werden: Der Mann mit dem wallenden Grauhaar ist keine Schießbudenfigur, kein Bösewicht, von dem sich das Publikum mühelos distanzieren könnte. Blanco verströmt Charisma, Charme und eine gewisse Lausbubenhaftigkeit — quasi mildernde Umstände für seine menschlichen Schwächen.

Die Figur des Chefs verzerrt die Arbeitswelt also nicht ins Unkenntliche. Zwar ist er ein Patriarch alten Schlages, der Macht qua Fürsorge ausübt und deshalb die Schlagworte von Dialog, Augenhöhe und Miteinander im Munde führt. Aber die Rede von flachen Hierarchien, von Wohlfühlatmosphäre oder Familienkultur findet sich genauso in hochmodernen Start-Ups, in Tech-Firmen und bei den Kommunikationsberatern. Längst hat man dort gelernt: Nur ein zufriedener Mitarbeiter ist ein guter Mitarbeiter. Und so sträubt man sich gegen gesetzlich verordnete Mitbestimmung, gegen staatliche Regularien und das klare Bekenntnis zu einem Interessengegensatz zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern. 

Der alte Klassenkampf löst sich auf in einen Nebel aus Metaphern über das Boot, in dem man sitze. Diesen Strukturwandel so raffiniert in die komödiantische Struktur einzuflechten und quasi unterzuschmuggeln, ist das eigentliche Verdienst des Films. Trotzdem hält der Regisseur keinen Vortrag, der andere Meinungen und Rezeptionsweisen ausschlösse. Fernando León de Aranoa strickt das Gewebe der Handlung so durchlässig, dass die Pirouetten des Chefs um seine eigene Eitelkeit auch als rein unterhaltsames Vergnügen genießbar bleiben. Mit einem Javier Bardem in schillernder Hochform.

Der perfekte Chef (2021)

Blanco ist der „Patron“ einer Fabrik für Industriewaagen und steht unter enormem Druck: Schliesslich möchte er unbedingt den lokalen Unternehmenspreis gewinnen. Bis zur Visite der Untersuchungskommission muss alles perfekt sein, doch nichts läuft nach Plan. Ein rachsüchtiger Ex-Mitarbeiter, ein depressiver Aufsichtsbeamter und eine überambitionierte, jedoch in ihn verknallte Praktikantin machen Blanco das Leben schwer. Trotz aller Hindernisse tut er alles, um den Wettbewerb zu gewinnen, und scheut auch nicht davor zurück, moralische Grenzen zu überschreiten. Dabei löst er unwillentlich eine Kettenreaktion wilder Ereignisse aus.

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Meinungen

Jannis · 14.09.2022

Eine perfekte Kritik.