Still

Eine Filmkritik von Kirsten Kieninger

Mehr als nur still

Der Film hält nicht, was Titel, Plakatmotiv und die ersten Minuten zu versprechen scheinen. Das ist auch gut so. Gelegenheit dem Eskapismus zu frönen, gab es im Kino gerade in den letzten Jahren vermehrt. Für die Dauer eines Films aus dem eigenen Alltag herauszutreten und sich im Sessel sitzend – nein, nicht durch fiktive Action entführen zu lassen. Wir sind hier in der Dokumentarfilmecke. Aber auch hier gibt es den Reiz des Abenteuers, die Sehnsucht nach der anderen Lebenswelt. Und um diese zu bedienen, braucht es kein knallbuntes Superhelden-Universum, da reichen Schafhirten in Schwarzweiss.
Filme wie Dem Himmel ganz nah oder Winternomaden funktionieren jenseits ihres speziellen Sujets (ob Schafzüchter im ruralen Rumänien oder Schafhirten im westschweizerischen Winter) sehr gut als cineastische Resonanzböden. Hier trifft eine Sehnsucht, ein Fluchtimpuls vor dem Drängen und den Zwängen der modernen Zivilisation, auf eine andere Welt. Eine, die wie aus der Zeit gefallen, wie ein entschleunigtes Refugium wirkt. Diese Sehnsucht, aus dieser stressigen Zeit fallen zu dürfen, kennen wir die nicht alle? Und haben wir da nicht schon so einige Beispiele im Kino gesehen? Ob der Ex-Banker, der jetzt eine Berghütte bewirtschaftet, wie in Speed – Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, oder eben nun die junge Frau, die es auf die Alm zieht – wie das Filmplakat von Still nahelegt.

Folgender Satz steht da zu lesen: „Die Alm ist wie eine Sucht. Wenn man das einmal gemacht hat zieht’s einen immer wieder hin.“ Doch zum Glück geht es in Matti Bauers Dokumentarfilm um viel mehr als die Sehnsucht nach einer anderen Lebensweise. So anders sind Leben und Arbeit auf der Hochalm auch gar nicht – wenn man auch im normalen Leben Bäuerin ist. So wie Uschi, die Protagonistin des Films. Eine eigensinnige Mittzwanzigerin, die mit ihren Eltern auf einem Bergbauernhof in Bayern lebt. Zu Beginn des Films packt sie ihr Auto, um den Sommer wieder allein auf der Almhütte zu verbringen, für die Kühe zu sorgen, Käse und Butter zu machen. „Die spinnt“, sagt die Mutter. Wobei nicht ganz eindeutig ist, ob sie von ihrer Tochter redet, oder von der starrköpfigen Ziege, die Uschi gerade auf die Rückbank verfrachtet.
Der Film folgt Uschi auf die Hochalm, findet ruhige, vom Stativ gedrehte Bilder (Kamera: Klaus Lautenbacher), die ihr Leben dort ästhetisch reizvoll einfangen, und gerade, wenn man sich zu fragen beginnt: Ja nun? Butter machen, Feuer machen, Brotzeit machen, Kühe striegeln, Kühe streicheln, Kühe suchen – so atmosphärisch stimmig das ist, so geschickt das auch mit einzelnen, überraschenden, genau gesetzten Sätzen von Uschi aus dem Off kontrastiert ist – dieses Setting soll nun 80 Filmminuten tragen? Wenn sich also gerade die Dunstschleier der Langeweile zwischen die Alpengipfel zu schieben drohen, reißt ein Schnitt diese sich selbst genügende Welt auf: Die Eltern unten auf dem Hof. Ohne Uschis Hilfe können sie die Milchkuhwirtschaft immer schwerer bewältigen. Der Vater wartet, dass sie bald den Hof übernimmt. Die Mutter erwartet endlich Schwiegersohn und Enkelkinder.

Still entpuppt sich als zeitlose Entwicklungsgeschichte zwischen den Generationen, die durch das archaische Setting (Bauernhof), das übersichtliche Personal (Vater, Mutter, Kind) und die schwarzweiße Bildgebung den Kern, den die Geschichte umkreist, sichtbarer macht: Die junge Generation sucht ihren Platz im Leben und muss sich für ein Leben entscheiden, das sie leben will. Die Elterngeneration muss so langsam den Platz räumen und fragt sich dabei, ob sie eigentlich das Leben gelebt haben, das sie leben wollten.

Seine Kraft entwickelt der Film – abgesehen davon, dass er mit Uschi und ihren Eltern drei sympathische, starke Protagonisten mit sprechenden Gesichtern vor der Kamera versammelt – vor allem durch die Zeitspanne, die er erzählt: „2 Jahre später“ und nochmals „3 Jahre später“ bleibt Matti Bauer am Ball. Eine Zeit, in der (Spoiler Alert – wer sich lieber vom Lauf des Lebens überraschen lassen will, lese erst im nächsten Absatz weiter!) ein Schwiegersohn in spe und Pilotenuniform auftaucht, Kinder kommen, Kühe gehen, der Vater nicht mehr kann, die Mutter nicht mehr will und die Tochter einige Entscheidungen trifft. Das ganze allerdings nicht unbedingt in dieser Reihenfolge. Der Lauf des Lebens eben.

Still wirkt wie eine mit langem Atem gedrehte Langzeitbeobachtung, mit offenem Ausgang angesetzt und schließlich verdichtet zu einer 80-minütigen Essenz der menschlichen Existenz. Ein dokumentarisches Wagnis, das heutzutage schwer zu finanzieren ist – und als solches auch gar nicht finanziert wurde, wie ein Blick in die Filmografie des Regisseurs offenbart: Drei 45-Minüter mit den Titeln Die Sennerin (2004), Die Hoferbin (2007), Die Sennerin und ihr Sohn (2010) bilden die Grundlage für Still. Das mag den Anschein billigen Material-Recyclings machen, doch Regisseur Matti Bauer gelingt es, den Bogen über die drei Etappen hinweg so zu spannen, dass es sich im Ergebnis wie ein dramaturgisch runder, abendfüllender Dokumentarfilm ansieht.

Wenn Filme wie Dem Himmel ganz nah oder Winternomaden und die moderne Sehnsucht nach dem einfachen Leben dazu beigetragen haben sollten, dass Matti Bauer sein Material nun nochmal fürs Kino beackern konnte – gut so. Denn Still ist ein sehenswerter Dokumentarfilm. Und falls der Erfolg des Films Speed – Auf der Suche nach der verlorenen Zeit dazu beigetragen haben sollte, dass zeitgeistgemäß der Titel „Still“ als Gegenpol zu „Speed“ gefunden wurde – sei’s drum.

Still will nicht entschleunigen. Still erzählt nicht vom Selbsterfahrungstrip auf der Hochalm. Still erzählt die Geschichte einer jungen Frau, die zwischen Tradition, Verpflichtungen und Wünschen der Eltern ihr eigenes Ding machen will, ihr Leben leben will. Und das ist – ob auf dem Bauernhof oder in der Großstadt – eine universelle Geschichte und im speziellen Falle von Still ein konzentriertes, bewegendes Generationen-Porträt, viel mehr als nur „still“.

Still

Der Film hält nicht, was Titel, Plakatmotiv und die ersten Minuten zu versprechen scheinen. Das ist auch gut so. Gelegenheit dem Eskapismus zu frönen, gab es im Kino gerade in den letzten Jahren vermehrt. Für die Dauer eines Films aus dem eigenen Alltag herauszutreten und sich im Sessel sitzend – nein, nicht durch fiktive Action entführen zu lassen. Wir sind hier in der Dokumentarfilmecke. Aber auch hier gibt es den Reiz des Abenteuers, die Sehnsucht nach der anderen Lebenswelt. Und um diese zu bedienen, braucht es kein knallbuntes Superhelden-Universum, da reichen Schafhirten in Schwarzweiss.
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