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Nichts gewusst, nichts gehört, nichts gesehen. Das ist die häufigste Reaktion, wenn man Eltern oder Großeltern nach dem Nazi-Regime fragt. Niemand will über den eigenen Beitrag zur Barbarei nachdenken. In Luke Hollands Doku ist das anders. Er bringt Täter zum Reden.

Final Account (2020)

Eine Filmkritik von Peter Gutting

Die Banalität des Bösen

Viele können die Fragen nicht mehr hören, besonders in der älteren Generation: Was haben deutsche Eltern und Großeltern getan in der Zeit zwischen 1933 und 1945? Nur selten gab es darauf überhaupt eine Antwort, noch seltener eine ehrliche. Jetzt aber hat der britische Dokumentarfilmer Luke Holland Menschen zum Reden gebracht, die Täter waren. Oder zumindest Mittäter, Mitläufer oder schweigende Zuschauer. Einfach war das nicht. Mehr als zehn Jahre hat es gedauert. Aber das Zuhören hat sich gelohnt. Nicht um die Verbrechen abzuhaken oder gar zu verzeihen. Sondern um zu verstehen, gerade auch wegen des aktuellen Fremdenhasses.

9. Mai 2011: Der ehemalige SS-Mann Hans Werk trifft sich mit einer Gruppe Schüler aus Berlin. Der Ort ist symbolträchtig. Genau hier, im Gebäude der Wannsee-Konferenz, wurde 1942 der Plan für die Vernichtung der europäischen Juden in eine konkrete organisatorische Todesmaschinerie umgesetzt. Hans Werk und die Schüler sitzen am langen Konferenztisch, und man wähnt sich in einer verkehrten Welt. Der alte Mann, der als Wachmann im KZ Buchenwald Schuld auf sich lud, schämt sich für die Verbrechen der SS. Aber ein junger Mann will ihm die Schande ausreden. Man dürfe doch kein Problem damit haben, für sein Vaterland zu kämpfen. Während ein Alt-Nazi bereut, schnüren Jung-Nazis ihre Stiefel. Werk kontert, wird laut. Die Stimmung kocht hoch, als der Schüler etwas von Albanern schwafelt, die in U-Bahnhöfen Deutsche abstechen würden.

Die Szene zählt nicht nur zu den emotionalsten und eindrücklichsten des Films. Sie macht auch deutlich, wie aktuell die verhandelten Fragen um Verführung, Verantwortung und Verlust von Menschlichkeit sind. Luke Holland versucht mit seiner Dokumentation Antworten auf eine sehr persönliche Frage zu finden: Wie konnten Menschen solche Untaten begehen? Seine Wiener Großeltern wurden in KZs ermordet, der Mutter gelang die Flucht nach England, wo Holland während des Kriegs geboren wurde. Nach anderen Filmen über den Nationalsozialismus (Ich war Hitlers Sklave und Good Morning, Mr. Hitler) begann er 2008, Gespräche mit rund 250 Zeitzeugen zu führen: SS-Leute, Wachen, Soldaten, aber auch mit Beobachtern, die selbst keine Verbrechen verübten. Mit Menschen, die wegschauten, statt zu helfen. Nicht alle bereuen wie Hans Werk. Manche verehren Hitler noch immer. Zwischen Scham und Trotz liegen ganz viele individuelle Schattierungen.

Final Account liest Gesichter, hört das Gesagte und lässt die Zuschauenden ihre eigenen Schlüsse ziehen. Manches wirkt unfreiwillig komisch, anderes lässt ein Ringen erahnen: mit tiefer Schuld, mit Selbstzweifeln, mit Trauer, aber auch mit Selbsttäuschung, weil der ganz persönliche Rückfall in die Barbarei die Verarbeitung in Bewusstsein und Sprache verweigert. Luke Holland will verstehen, wie das war: erst Jungvolk, dann Hitlerjugend und schließlich Totenkopf-Division. Dass das Wissenwollen keine Vergebung bedeutet, macht die Stimme des Interviewers deutlich. Freundlich und sachlich, aber glasklar hakt er nach, wenn Widersprüche auftauchen.

Hollands Film verstört, trotz seines ruhigen, von Naturimpressionen durchsetzten Rhythmus, der Räume für die Verarbeitung des Gehörten und Gesehenen öffnet. Die Interviews mit den demnächst aussterbenden Tätern — alle sind weit über 80 — faszinieren und irritieren gleichermaßen. Auch deshalb, weil die greisen Männer und Frauen in manchen Fällen geradezu darauf gewartet zu haben scheinen, ihre Geschichte erzählen zu dürfen. In solchen Momenten erinnert Final Account an den Täter-Film The Act of Killing (2012) von Joshua Oppenheimer über Mörder bei einem Massaker in Indonesien. Auch wenn es Holland nicht in erster Linie um Anklage geht.

Das müssen die Befragten, die quasi zu den kleinen Fischen des Regimes gehörten, gespürt haben. Im Mittelpunkt steht die bis heute quälende Fassungslosigkeit über das, was die Philosophin Hannah Arendt die „Banalität des Bösen“ nannte. Nicht die menschlichen Monster seien die gefährlichsten, heißt es eingangs in einem Zitat des Holocaust-Überlebenden Primo Levi. Sondern die ganz normalen Menschen wie du und ich, die gedankenlos Befehle ausführen.

Eindeutige Antworten gibt der Film, dessen Regisseur nach der Fertigstellung verstarb, nicht. Aber er lässt in Abgründe blicken, die jahrzehntelang verschüttet blieben. Sie fördern universelle Mechanismen zutage, die die innere Stimme des Gewissens an den Rand drängen — durch Erziehung, Massenhysterie und fremdenfeindliche Propaganda. Luke Holland hat einen wichtigen Film gedreht, der sich von oft gesehenen Darstellungen der Nazi-Zeit wohltuend abhebt. Vom russischen Krieg gegen die Ukraine, von dem dadurch aufgewühlten Vernichtungswillen eines imperialistischen Wahns konnte der Regisseur natürlich nichts ahnen. Seine Betrachtungen werden dadurch noch einmal beklemmender.

Final Account (2020)

FINAL ACCOUNT ist ein eindringliches Porträt der letzten lebenden Generation, die in Hitlers NS-Diktatur gelebt hat. Über zehn Jahre haben Regisseur Luke Holland und sein Filmteam Männern und Frauen mit verschiedenen Hintergründen − sowohl früheren SS-Mitgliedern als auch Zivilisten − wichtige Fragen zu Mitschuld und Täterschaft, zu nationaler Identität, Ermächtigung und Verantwortung gestellt. 

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