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Auf dem Planeten New World sind alle Gedanken der dort lebenden Männer hör- und sichtbar. Als eine junge Frau mit ihrem Erkundungsraumschiff über der Kolonie abstürzt, erhält sie Hilfe von einem Bewohner im gleichen Alter. Ist die Romanverfilmung wirklich so missraten, wie die US-Kritiker behaupten?

Chaos Walking (2021)

Eine Filmkritik von Christopher Diekhaus

Die Gedanken sind frei

Fans packender und sensibler Fantasy-Filme könnte der Name des Schriftstellers Patrick Ness spätestens seit der Adaption seines Bestsellers „Sieben Minuten nach Mitternacht“ ein Begriff sein. Der Roman und die 2016 veröffentlichte, unter der Regie Juan Antonio Bayonas entstandene Kinoversion erzählen in Form einer ebenso bildgewaltigen wie tiefschürfenden Monstergeschichte von der Angst eines Jungen vor dem Verlust eines geliebten Menschen. 2011, bereits einige Jahre vor Entstehen dieser Buchverfilmung, wurde bekannt, dass der erste Band der sogenannten „Chaos Walking“-Reihe aus der Feder von Ness für die große Leinwand aufbereitet werden sollte. Nach einer turbulenten Entwicklungs- und Produktionsphase, die diverse Skriptanläufe und außerplanmäßige Drehs in Folge schlechter Testvorführungen umfasste, erreicht das Science-Fiction-Abenteuer im Stil der „Tribute von Panem„-Saga eine geschlagene Dekade später nun die deutschen Kinosäle.

Ein Blick auf die Kritiken in den Vereinigten Staaten, wo der Film bereits im März 2021 startete, ließ Schlimmstes befürchten. Der von Doug Liman (Barry Seal: Only in America) inszenierte Dystopie-Stoff ist tatsächlich aber kein krachender Totalausfall, sondern holprig wirkende Konfektionsware, die aus ihrer reizvollen Zukunftswelt zu wenig herausholt. Ganz ähnlich dem hierzulande bei Amazon Prime angelaufenen Weltraumthriller Voyagers, der seine mit moralischen, ethischen und philosophischen Fragen angereicherte Prämisse an einen spannungstechnisch routinierten, jedoch anspruchslosen Herr-der-Fliegen-Abklatsch verschenkt.

Basierend auf dem Young-Adult-Roman New World: Die Flucht, zeichnet sich Chaos Walking von den ersten Momenten an durch ein originelles, manchmal aber auch anstrengendes Element aus: Die Gedanken der männlichen Figuren sind ständig hör- und sichtbar, was ein permanentes Hintergrundrauschen entstehen lässt. Bläulich-lilafarbene Wolken, die um die Köpfe schwirren, betonen die oft konfusen geistigen Vorgänge, die regelmäßig dahingenuschelt werden und sich mitunter auch in konkreten Bildern manifestieren. Der „Lärm“, wie das seltsame Phänomen heißt, bestimmt den Alltag der Bewohner des in einer ersten Besiedlungswelle von Menschen kolonisierten Planeten New World.

Eben dort lebt im Jahr 2257 Todd Hewitt (Tom Holland) mit seinen Adoptivvätern Ben Moore (Demián Bichir) und Cillian Boyd (Kurt Sutter) in der ausschließlich von Männern bewohnten Stadt Prentisstown, nachdem vor einiger Zeit alle Frauen im Krieg gegen die einheimische Spezies der Spackle getötet wurden. Als eines Tages ein Erkundungsraumschiff in der Nähe seines Hauses bruchlandet, wird Todd auf Viola (Daisy Ridley) aufmerksam, die allererste weibliche Person, die er zu Gesicht bekommt, und zugleich die einzige Überlebende des Absturzes. Nach einer kurzen Flucht findet sich die junge Frau in den Händen des autoritären Bürgermeisters Prentiss (Mads Mikkelsen) wieder, der Viola für unlautere Zwecke missbrauchen will. Eine Unachtsamkeit seines Sohnes (Nick Jonas) nutzt die Gefangene allerdings, um erneut zu entkommen. Gemeinsam mit Todd bricht Viola nur wenig später zu einer Odyssee über den Planeten auf – mit dem Ziel, die angeblich sichere Siedlung Farbranch zu erreichen, von deren Existenz ihr Begleiter bislang nichts wusste.

Das nach mehreren Autorenwechseln in letzter Konsequenz Patrick Ness und Christopher Ford (Spider-Man: Homecoming) zugeschriebene Drehbuch etabliert Todd als einen unsicheren und naiven Jüngling, der sich im Geiste fortlaufend ermahnt, ein richtiger Mann zu sein. Davon, was jenseits der Grenzen seines Heimatortes geschieht, hat Hewitt keine Ahnung. Immer wieder ist er verzweifelt und erfolglos bemüht, seine hervorsprudelnden Gedanken zu kaschieren. Und seine Entzückung über die junge Frau an seiner Seite nimmt manchmal beinahe lächerliche Züge an. Todds plötzlich aufkommende romantische Gefühle werden vor allem an einer Stelle auf gebührende Weise ironisch gebrochen. Auch der Glaube, Viola in jeder brenzligen Situation retten zu müssen, erweist sich als Trugschluss. Mehrfach kann sie sich sehr gut selbst verteidigen.

Ein kritischer Blick auf männlichen Übereifer, männlichen Kontrollwahn und männliche Machstrukturen tritt zum Vorschein. Wirklich ausformuliert werden die Überlegungen aber nicht – was auf so viele Aspekte der Handlung zutrifft. Womöglich soll manches in einer Fortsetzung, die man sich nach dem bisher schwachen Abschneiden am Boxoffice freilich nur schwer vorstellen kann, genauer in den Fokus rücken. Schade ist es dennoch, dass zahlreiche Ideen in der Luft hängen bleiben. Darunter auch Violas Hinweis auf das fragwürdige, von Todd zunächst als selbstverständlich angenommene Kolonisationsrecht der Menschen und den Umgang mit der ursprünglichen New-World-Spezies. Regelmäßig tun sich in der skizzierten, mit Western-Komponenten versehenen Welt reizvolle Seitenwege auf, die meistens jedoch ins Nichts führen. 

Statt angerissene Konflikte und Themen eingehender zu erörtern, zieht sich Chaos Walking auf einen leidlich unterhaltsamen Jump-and-Run-Modus zurück. Die Hatz durch die urwüchsige Landschaft des Planeten wartet mit einigen knackigen Actionszenen auf – etwa einem an The Revenant – Der Rückkehrer erinnernden Sturz und einem Kampf in einem reißenden Fluss – und liefert ein paar prächtige Bilder. Enthüllungen, die erschüttern sollen, kommen aber nicht allzu überraschend. Und emotionale Wendepunkte verpuffen schnell. Bezeichnend für den sein Potenzial nur unzureichend abrufenden Film ist außerdem, wie er den Einfall der ungebremst erfahrbaren Gedanken nutzt: wiederholt nämlich als humoriges Stilmittel. Welche Qual es sein muss, wenn alles, was einem durch den Kopf geht, frei zugänglich ist, wird allenfalls angedeutet. Gleichzeitig drängt sich die Frage auf, wie es dem von Mads Mikkelsen erstaunlich fade verkörperten Bösewicht eigentlich gelingt, seine Überlegungen besser zu verbergen. Auch hier bleibt Chaos Walking seltsam vage – und verpasst es einmal mehr, das Interesse für das entworfene Zukunfts-Setting und seine Figuren kräftig anzuheizen.

Chaos Walking (2021)

Doug Limans neuer Film spielt in einer dystopischen Welt ohne Frauen, in der alle Lebewesen dazu fähig sind, die Gedanken aller Anderen in Form eines Bwusstseinsstroms namens „The Noise“, der aus Worten, Bilder und Geräuschen besteht, zu hören.

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