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Constantin Hatz’ bester Freund nahm sich 2015 das Leben. Der als Kind aus den Balkankriegen Geflüchtete hinterließ „Notizen über meine Existenz“, die er dem österreichischen Regisseur vermachte. Dessen Dokumentar- und Konzeptfilm erweckt sie auf kongeniale Weise zum Leben.

Störung (2022)

Eine Filmkritik von Bianka Piringer

Im geistigen Ringkampf mit dem Tod

Der Mensch, der diesem Film seine sprachlichen Bilder und Schlussfolgerungen schenkt, ist seit einigen Jahren tot. Als Kind vor den Jugoslawienkriegen der 1990er Jahre geflohen und in der neuen Gesellschaft ein Fremder, schreibt er über Jahre hinweg an seinen „Notizen über meine Existenz“. Darin hält er fest: „Mein höchstes Glück ist Denken. Und ich wollte mich in meinem Denken retten.“ Der Kampf gegen die Traumata und um das Verstehen verzehrt ihn. 2015 nimmt sich der junge Mann das Leben. Seine Notizen hat er dem Filmemacher Constantin Hatz („Brut“, „Gewalten“) vermacht, der seinen besten Freund nun auf bewegende Weise posthum aus der Unsichtbarkeit holt. 

Dabei bleibt der Autor der filmischen Texte in diesem dokumentarischen Konzeptfilm physisch anonym, nicht einmal sein Name wird genannt. In fünf Episoden an Schauplätzen, die sich an seinen prägenden Lebensabschnitten orientieren, trägt ein Ensemble aus Laien und Schauspieler*innen Ausschnitte aus den „Notizen“ in freier Rede und Ich-Form vor. Ein Lastwagenfahrer (Peter Marty) fährt auf einer schmalen Landstraße durch eine hügelige Landschaft, in der nur einmal ein Mensch auf einem Pferdewagen zu sehen ist. Der Fahrer stellt seinen Campingtisch auf, ein andermal lässt er sich am Gartentisch neben einer Tankstelle bewirten, streift durch die Ruinen eines Gebäudes. Von der Flucht des Jungen mit der Mutter ist die Rede, dem toten Mann, den er auf einem Feld entdeckte, von Hunger und Kälte. 

Im Zimmer eines Arbeiterwohnheims beobachtet die Kamera nacheinander zwei Personen (Jakub Sierenberg, Sabine Hatz), die sich darin provisorisch einrichten. Wenn sie am Küchentisch ihre Mahlzeiten einnehmen oder auf dem Bett sitzen, wirken sie gestrandet, auf sich und ihre mitgebrachten Gedanken zurückgeworfen. Die Erzählung handelt von der Ankunft im Flüchtlingsheim, vom Warten auf Papiere. In der Schule bekommt der Junge Förderunterricht in Deutsch. Die Mutter arbeitet und bestückt die erste Wohnung mit neuen Möbeln, aber dann wird dem Kind erneut der Boden unter den Füßen weggerissen: Die Mutter stirbt an Krebs. „Die Welt hatte sich aufgelöst“, wird er später notieren.

In allen Episoden des in Schwarzweiß gedrehten Films sind die Protagonisten vollkommen allein mit sich. Lediglich der Holzfäller (Robert Kuchenbuch) begegnet einmal im Wald einer Seiltänzerin (Sarah Lindermayer), die er stumm betrachtet. Man erfährt, wie der Verfasser der „Notizen“ seine Gedanken zu Ende denken und sich dabei gegen immer neue Gedanken, die ihn bestürmten, wehren wollte. Zuerst setzt die Seiltänzerin ihre Schritte langsam, dann wird sie immer schneller. Auf den Tod der Mutter folgt die Zeit in einem Kinderheim mit strafenden Erziehern. Weil sich der Heranwachsende abschottet, wird er stundenlang in ein schmales Zimmer gesperrt. Eine Krankenpflegerin (Amanda Babaei Vieira) spricht die Episode in einer psychiatrischen Klinik, in die der junge Erwachsene zum Schutz vor sich selbst kam. Zuletzt übernimmt eine Theaterschauspielerin (Mariam Avaliani) die Bühne eines leeren Theaters.

Mit großer Klarheit, sehr reflektiert und ausdrucksstark bahnt sich der junge Mensch schon früh geistige Pfade durch das Elend, das ihn zu verschlingen droht. Aber die Bilder des Todes haben sich in seine Seele eingefressen. Erst spät streut Hatz den erinnerten Moment ein, als die Soldaten den Vater verschleppen, das Kind ihn zum letzten Mal sieht. Die Schule im neuen Land, heißt es in den Notizen des Verstorbenen, sei für ihn unerträglich gewesen, die Lehrer hätten ihm sein eigenes Denken durch ihr triviales zu ersetzen versucht. Solche tiefgründigen Betrachtungen frappieren und erschüttern. Sicherlich geht es vielen Geflüchteten ähnlich, wenn sie auf eine neue Umgebung treffen, die für ihre Erlebnisse und Wunden kaum ein Ohr hat, sondern Anpassung erwartet. Man stelle sich nur vor, wie dieser Junge vom Lehrer ein Weltbild vorgesetzt bekommt, das er in seiner pädagogischen Einfalt als realitätsfremd und ausgrenzend empfinden muss.

Es gibt starke Elemente der Hoffnung in den „Notizen über meine Existenz“, etwa die Freundschaft mit einem legasthenischen Jungen, der ebenfalls den Förderunterricht besucht. Auch später bricht der Kontakt nicht ab, und als das Kinderheim dem Erzähler die geliebten Bücher wegnimmt, wird sie ihm dieser Freund am Telefon zu Ende vorlesen. Wie viel rebellischer Optimismus in einer solchen Freundschaft steckt! Ob der Filmregisseur besagter Freund ist oder ein anderer, bleibt der Fantasie des Publikums überlassen. Die Leidenschaft, mit der sich der Junge in das Lernen der deutschen Sprache stürzt und in all die Bücher der Weltliteratur vertieft, zeugt von einem scharfen Intellekt und dem Wunsch, sich irgendwo zu beheimaten. Aus diesem begabten Menschen hätte ein Künstler oder ein Gelehrter werden können. Dieser hervorragende Film zeigt, wie sehr er sich danach gesehnt hat, gehört und beantwortet zu werden, und wie richtig er damit lag, an die Bedeutung seiner hinterlassenen Worte zu glauben.

Störung (2022)

Im Jahr 2015 nimmt sich der beste Freund des Regisseurs das Leben. Er war als Kind vor dem Jugoslawienkrieg geflohen, nie richtig in der neuen Heimat angekommen. Seine Gedanken hat er über Jahre hinweg zu Notizen verfasst, die eine Selbstreflexion über sein Leben, das von Krieg und Flucht geprägt war, darstellen. Mit einem Ensemble aus Laien und Schauspieler*innen bringt Constantin Hatz in fünf Episoden dieses Schriftmaterial in Monologform zu einem dokumentarischen Film. (Quelle: Hofer Filmtagen)

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