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Christoph Schlingensief war mit seinen Filmen, Bühneninszenierungen, Aktionen einer der hellsichtigsten politischen und gesellschaftlichen Künstler, die Deutschland je hatte. In ihrem Dokumentarfilm-Porträt geht Bettina Böhler umfassend dem Phänomen Schlingensief nach.

Schlingensief - In das Schweigen hineinschreien (2020)

Eine Filmkritik von Harald Mühlbeyer

Er ist nicht mehr da

Deutschland, plus/minus 1990: Wiedervereinigung, Neonazis, hohle Phrasen, gesellschaftliche Utopie, gesellschaftliche Hysterie. Deutschland, plus/minus 2020: Große Koalition, Neonazis, hohle Phrasen, gesellschaftliche Apathie, gesellschaftliche Hysterie. Heute wie vor 30 Jahren: Die Medien drehen immer mehr durch, lähmende und lärmende Angst von links und rechts, Skandale hier und Randale dort. Politik als Theater, das Dasein in Deutschland als Illusion und Simulation: Bis zu seinem Tod 2010 konnte Christoph Schlingensief aufzeigen, was in Deutschland ab- und schiefläuft. In Zeiten von Nazis in den Parlamenten, von Dieselbetrug und CumEx-Verbrechen, von selbstzerstörerischen Parteien, von Präsidentenclowns und Isolationsbriten und Klimaerwärmungsleugnern und einer EU, die Menschen im Mittelmeer ertrinken lässt und keine Börsensteuer durchsetzen kann, in Zeiten von wahlweiser Verwirrung und Lethargie hätte Schlingensief massig Futter gefunden für seinen künstlerischen Geist.

Bettina Böhler: Wenn es so etwas wie einen Star des Filmschnitts gibt, ist sie es. Auch für Schlingensief hat sie ein paar Filme montiert, Terror 2000 – Intensivstation Deutschland (1992) und Die 120 Tage von Bottrop (1997): Filme, in denen Schlingensief meisterlich die vielen gesellschaftlichen Diskurse in all ihrer Widersprüchlichkeit aufeinanderlegte, die Hetze auf Geflüchtete und das Gladbecker Geiseldrama und die Baustelle des Potsdamer Platzes und den erbarmungswürdigen Zustand des deutschen Films, und das ist – wie alle Schlingensief-Filme – Kunst und gleichzeitig ein Angriff auf die Kunst, ist Attacke und Hysterie und Geschrei und Gemetzel. Böhler hat sich also schon beim Erstellen dieser Film gewordenen Gedankengewitter durch das Konvolut von Schlingensief-Bildern und Schlingensief-Ideen durcharbeiten müssen, und sie hat sich nun wieder tief hineinbegeben.

Denn die Filmgalerie 451, schon seit langem Vertrieb für Schlingensiefs Werke und nach seinem Tod Sammlerin des Nachlasses, hat ihr Archiv geöffnet für Böhler, die sich bedienen konnte. Ausschnitte aus den ersten Filmversuchen und aus Interviews, aus den Spielfilmen und Theaterinszenierungen und Aktionen versammelt sie klug geordnet und zugleich angemessen wild aneinandergeschnitten zu einem umfassenden Porträt des Phänomens Christoph Schlingensief: Keine Talking Heads, die ihn nachträglich würdigen – was in Dokuporträts oft so schrecklich heuchlerisch und eitel rüberkommt! –, sondern Schlingensief als er selbst, der über sich spricht und über sich nachdenkt.

Und wenn Schlingensief spricht oder nachdenkt, dann kommen oft kluge Sachen raus. Und manchmal hanebüchener Blödsinn. Und manchmal schlicht Comedy, wenn auch nicht gekennzeichnet als solche. Oft unergründlich, was Schlingensief tatsächlich meint, wo er sich ehrlich entblößt und wo er Selbstmythisierung betreibt, und das ist genau das, was den Kern seiner Kunstästhetik ausmacht: Das Überlagern von Bildern und Ideen, deren Umrühren und Verschweißen – und dann dreht er noch den Pegel hoch. Wichtigste Regieanweisung scheint „Schrei!“ gewesen zu sein.

Schlingensief hat Veit Harlan persifliert und dabei Helge Schneider als einen der großen Bösewichte der Filmgeschichte eingesetzt, hat kannibalische Wessis naive Ossis verwursten lassen, hat zum Töten Helmut Kohls aufgerufen, hat in Wien, während der ersten FPÖ-Regierung, Migranten in einen Container gesperrt und zur Abschiebung auswählen lassen, hat Talkshows wie Celebrity-TV zerlegt und zuletzt seinen Kampf gegen den Krebs in die religiösen Weihen der Church of Fear emporsteigen wie auch in einem persönlichen Tagebuch eine große Leserschaft berühren lassen.

Dass Schlingensief nicht einfach nur provozierte, nicht einfach das enfant terrible spielte, um sich wichtig zu machen oder um andere lächerlich zu machen: Das arbeitet Böhler akkurat heraus. Das hysterisch Absurde, das der Künstler auf die Leinwand oder auf die Bühne brachte, ist nicht weniger als die Wirklichkeit, der Schlingensief das Futteral aus bigotter Zurückhaltung abgerissen hat. Man muss die (Ver)Störung Schlingensief‘scher Kunst aushalten, und dann kann man einen Blick auf die vielleicht verzerrte, vielleicht vergröberte, aber auf jeden Fall wahrhaftige Wirklichkeit erhaschen.

Schlingensief – In das Schweigen hineinschreien schafft es, diesen schnellen, hyperaktiven Kopf, bei dem Denken, Sprechen und Handeln in eins gehen, als Künstler so zu porträtieren, dass er verstanden werden kann, besser, als es aus der Betrachtung eines Einzelwerkes möglich wäre. Das Abstoßende und Aggressive, die wilde Komik und brachiale Satire, die Angst und die Liebe machen das Œuvre dieses großen Künstlers aus. Böhler bietet mit ihrem Montage-Film die Möglichkeit, den Künstler und sein Werk (neu) kennenzulernen – sowohl als Einführung wie auch als Kommentar und Wegweiser in Schlingensief‘sche Abgründe.

Schlingensief - In das Schweigen hineinschreien (2020)

Über zwei Jahrzehnte hat Regisseur Christoph Schlingensief den kulturellen und politischen Diskurs in Deutschland mitgeprägt. Die renommierte Filmeditorin Bettina Böhler unternimmt erstmals den Versuch, den Ausnahmekünstler Schlingensief, der 2010 im Alter von nur 49 Jahren starb, in seiner gesamten Bandbreite zu dokumentieren. Das intensive Porträt durchlebt die ganze Entwicklung Schlingensiefs vom quasi pubertierenden Filmemacher im Kunstblutrausch über den Bühnenrevoluzzer von Berlin und Bayreuth bis hin zum Bestsellerautor, der kurz vor seinem Tod die Einladung erhält, den Deutschen Pavillon in Venedig zu gestalten. (Quelle Weltkino Filmverleih)

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Meinungen

Harald Mühlbeyer · 23.08.2020

Im Rahmen der Berlinale geschrieben. Vor Corona; das wäre ja nochmal ganz neuer Stoff gewesen...