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„Es ist die Pflicht des Architekten, dem Leben eine empfindsamere Struktur zu geben.“ Alvar Aaltos revolutionäres Mensch-Architektur-Verständnis hinterlässt bis heute tiefe Spuren rund um den Globus. Wer war dieser finnische Kosmopolit, den Stararchitekten wie Santiago Calatrava unentwegt schätzen? 

Aalto – Architektur der Emotionen (2020)

Eine Filmkritik von Simon Hauck

Architektur ohne Verbrechen

Visitenkarten besaß er nicht. Was hätte Alvar Aalto (1898-1976) auch darauf drucken lassen sollen? „Homo naturalis“, „Architektur ohne Verbrechen“, „Wandelnder finnischer Weltgeist“ oder doch schlichtweg „Rockefellers Lieblingsbaumeister“? Eines seiner zahlreichen Bonmots wäre für diese Art der Eigen-PR schon deutlich passender gewesen: „Es gibt nur zwei Dinge in der Architektur: Menschlichkeit oder keine.“ Einzig darum ging es (s)ein Leben lang.

Aaltos revolutionäres Berufscredo wurde bereits in 1930ern rund um den Globus verstanden: „Moderne Architektur bedeutet nicht, dass man unter allen Umständen neue Materialien einsetzt; das Wichtigste ist, mit entsprechenden Materialien eine humanere Form zu finden.“ Es sicherte ihm in der Projektwahl bald eine quasi sakrosankte Stellung als Baumeister, Städteplaner und Designer zu, wovon Virpi Suutaris dokumentarisches Künstlerporträt von
Beginn an eindrucksvoll erzählt, ohne je in unkritische Heiligenverehrung abzudriften. 

Denn der 1898 im finnischen Kuortane geborene Übervater des „Modernismus“, der bis heute obendrein zu den einflussreichsten Möbeldesignern „Made in Scandinavia“ zählt, fand in seinen beiden künstlerischen Musen und späteren Ehefrauen Aino Aalto (1894-1949) und Elissa Aalto (1922-1994) gleich zwei kongeniale Partnerinnen für seine keineswegs hölzernen Visionen, wenngleich Holz und Ziegelsteine zu seinen bevorzugten Baumaterialien zählten. Mit ihrer konkreten Hilfe wurde der Name Alvar Aalto rasch zu einer globalen Marke mitsamt eigener Möbelfabrikation (artek), was Virpi Suutari vor allem in den ersten 50 Minuten von Aalto – Architektur der Emotionen ebenso präzise wie anschaulich herausarbeitet. 

Dank lukrativer Gastvorträge und Professuren sowie schier endloser Ehrungen und großer Medienpräsenz bis ins hohe Alter hinein konnte der eher radebrechend englisch parlierende Finne trotz allem international reüssieren und gleichzeitig auch in (Nach-)Kriegszeiten von seiner künstlerisch-kreativen Arbeit jederzeit leben, was so nicht durchgängig für die weiteren Vertreter der „Fantastic Four“ der Baukunst des letzten Jahrhunderts gilt. Walter Gropius, Ludwig Mies van der Rohe und Frank Lloyd Wright hatten immer wieder mit extremen persönlichen wie politischen Krisen und teilweise enormen finanziellen Engpässen zu kämpfen. 

Überhaupt hält dieser formal wie ästhetisch besonders schwungvoll gestaltete Kunst-trifft-Leben-Architekturfilm auch für Aalto-Experten*innen durchaus neue Aspekte bereit. So wird dessen Rolle als früher Medienstar in den USA faszinierend beleuchtet sowie Aaltos ambivalente Verehrung des Kubismus und des „Bauhaus“- und „Werkbund“-Stils noch einmal kritisch diskutiert, wie sie sich beispielsweise in Aaltos Begeisterung für das mannigfaltige Oeuvre von László Moholy-Nagy oder Fernand Léger zeitlebens manifestierte, ohne selbst zum bloßen Kopisten zu mutieren. 

Mittels emotionaler Bildsprache, eines versiert eingesetzten Scores mit „minimal music“-Anteilen und klug ausgewählten Wochenschaumaterials gelingt der finnischen Dokumentarfilmerin in der Summe ein höchst vitales Künstler*innenporträt, das gleichfalls ein wenig architekturaffines Publikum begeistern kann. Speziell in den ebenso pikanten wie unterhaltsamen Auszügen aus Alvar und Aino Altos privater Korrespondenz offenbart sich die Vorstellung einer höchst modernen Liebes- und Lebensbeziehung, die natürlich in den prüden 1940ern und 50ern analog zu den gut 500 Entwürfen der Aaltos in Politik und Gesellschaft extrem hohe Wellen schlug. 

Ergänzt durch glänzende Privataufnahmen aus dem Aalto-Archiv sowie einer überbordenden Fülle an Found-Footage- und historischem Bewegtbildmaterial schlägt Aalto – Architektur der Emotionen im Subtext gleichsam einen narrativ spannungsreichen Bogen durch die Geschichte des 20. Jahrhunderts. Weitere Architekten wie Kunstkritiker kommen dabei zu Wort, aber auch Aaltos Kinder und ihm menschlich wie künstlerisch eng verbundene Kamerad*innen, die ihn als besonders „strahlungsintensiv“ in Erinnerung haben. Und natürlich immer wieder die kosmopolitischen Aaltos in originellen Radio-O-Tönen höchstselbst. 

Alvar Aalto saß dabei nicht selten der Schalk im Nacken. Denn in seinem Büro ging es keineswegs politisch korrekt zu. Da sang der Hausherr gerne obszöne Lieder, trank reichlich vor und sogar mit der versammelten Mannschaft und empfing internationale Gäste durchaus im Bademantel, also bewusst ohne Lackschuhe oder den Regeln gängiger Etikette folgend, was sich ebenso konsequent in Aaltos Gesamtwerk niederschlug.

Aalto – Architektur der Emotionen (2020)

Der finnische Architekt und Möbeldesigner Alvar Aalto (1898-1976) gilt als „Vater des Modernismus“. Er schuf ikonische, organisch anmutende Gebäude, darunter zahlreiche Sommervillen in den nordischen Ländern, die Stadtbibliothek in Viipuri, das Theater in Essen und die Heilig-Geist-Kirche in Wolfsburg. Zum populären Design-Stück avancierte die Aalto-Vase mit ihrem asymmetrischen Grundriss und ihrer gewellten Form. Eine entscheidende Mitwirkung an Alvars weltweitem Ruhm kommt dessen Ehefrau Aino (1894-1949) zu, mit der er bis zu ihrem frühen Tod ein produktives Team bildete.

Regisseurin Virpi Suutari erzählt in ihrem dokumentarischen Porträt „Aalto – Architektur der Emotionen“ vom Leben und Werk des kreativen Ehepaares und von der besonderen Liebe, die Alvar und Aino verband. Der Film nimmt uns mit auf eine Reise zu den eindrücklichsten Aalto-Bauten, von Finnland über Russland und die USA bis nach Frankreich, und zeigt Begegnungen mit den Rockefellers, Le Corbusier und László Moholy-Nagy. Suutari kombiniert aktuelle Aufnahmen mit Archivmaterial und lässt Zeitzeug*innen und Expert*innen zu Wort kommen. Durch die eingesprochenen Liebesbriefe zwischen Alvar und Aino kommen wir den beiden auch persönlich ganz nah.

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