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Jia Zhang-ke setzt mit dem Dokumentarfilm „Swimming Out Till the Sea Turns Blue“ der chinesischen Provinz ein Denkmal. Doch wie viel Pathos verträgt Geschichtsschreibung?

Swimming Out Till The Sea Turns Blue (2020)

Eine Filmkritik von Lucia Wiedergrün

Die Rückkehr

Das Ländliche und seine Dörfer sind steter Ausgangspunkt von Kunstschaffen. Dabei ist die Provinz ein Ort mit vielfältigen Zuschreibungen. Gerade vor dem Hintergrund der bewegten chinesischen Geschichte offenbart sich hier ein Raum mit vielen Gesichtern. Die Provinz ist ebenso Ort romantischer Verklärung wie harter Arbeit und großer Entbehrung. Sie ist Speicher kultureller Traditionen, war aber auch angstbesetzte Verbannungsstätte während der Kulturrevolution und zuletzt ein wiederentdecktes Paradies in Zeiten voranschreitender Urbanisierung und boomender Megastädte. Wie lässt sich dieser Heterogenität filmisch gerecht werden?

Die enge Beziehung Jia Zhang-kes zu seiner Heimatprovinz Shanxi prägt das bisherige Werk des Regisseurs. Auch sein neuster Film Swimming Out Till the Sea Turns Blue (Yi Zhi You Dao Hai Shui Bian Lan) ist von ihr durchdrungen. Der Dokumentarfilm zeichnet die monumentalen Umbrüche nach, welche die rurale Region in den letzten Jahrzehnten durchlebt hat. Entstanden in Verbindung mit einem 2019 von Zhang-ke gegründeten Literaturfestival, versammelt der Film eine Reihe Schriftsteller*Innen, die zu Chronist*Innen der Region werden. Als zentrale Protagonist*Innen treten die angesehen Autor*Innen Jia Pingwa, Yu Hua und Liang Hong auf. Gemeinsam verkörpern sie drei verschiedene Generationen und erzählen so eine Geschichte Chinas von den 1940er Jahren bis in die Gegenwart. Dabei reichen ihre Erinnerung von historischen Großereignissen – dem Krieg gegen die Japaner, der Kulturrevolution und den Reformprozessen der 1980er Jahre – bis zu Alltäglichkeiten. 

In Swimming Out Till the Sea Turns Blue sind die Bilder aufgesogen von der Liebe zur Landschaft, den Menschen und der Arbeit auf dem Feld. Die fast durchgängige expressive musikalische Untermalung verleiht dieser Emotionalität zusätzlich Nachdruck. Es ist das Pathos der großen nationalen Erzählungen, welches hier eine Form findet. Doch bleiben diese nicht unkommentiert. Vielmehr treffen eben jene Groß-Narrative durchgehend auf die Erzählungen der Porträtierten, die wiederum ein subtil anderes Bild zeichnen. Denn die Künstler*Innen berichten nicht nur von den monumentalen Veränderungen der chinesischen Gesellschaft, sondern auch von Persönlichem. Ihre Erinnerungen sind ebenso mit der Schwere der Geschichte aufgeladen wie mit der Leichtigkeit des Zufalls.

In dem Spannungsverhältnis zwischen den großen Mythen der Nation und den kleinen ganz eigenen Lebenserinnerungen siedelt sich Swimming Out Till the Sea Turns Blue an. Dabei wird die Reibung zwischen diesen Polen zum Antrieb eines Nachdenkens über die Rolle der Kunst als Mittlerin zwischen Großem und Kleinem – Gemeinschaft und Individualität – sowohl aktiver Teil jener Herausbildung nationaler Erzählungen als auch Advokatin der Bedeutung des Individuums. 

Vor dem Hintergrund der chinesischen Geschichte ist Swimming Out Till the Sea Turns Blue eine intensive Beschäftigung mit der Rolle der Kunst bei der Schaffung wie auch der Subversion nationaler Mythen. Die Provinz als widersprüchlicher Raum, aufgeladen mit so vielen unterschiedlichen Bedeutungen, wird zum Anker dieser Reflexion. Ein Ort, der zwischen materiellen Zwängen, nostalgischen Zuschreibungen, historischem Erbe und Zukunftshoffnungen immer auch das ist, als was die Kunst ihn zeichnet.

Swimming Out Till The Sea Turns Blue (2020)

Jia Zhang-ke hat eine enge Beziehung zu seiner Heimatstadt Fenyang in der Provinz Shanxi, wo er seinen ersten Film Xiao Wu und eine Reihe weiterer, darunter Platform und Mountains May Depart, drehte. Die Region hat eine besondere Geschichte, die von einer starken Wirtschaftsleistung und einer tief verwurzelten kulturellen Tradition geprägt ist, und wurde zu einer Art chinesischem Arkadien. Etliche Schriftsteller kamen hierher und haben sich in ihren Gedichten, Geschichten und Romanen auf die ländliche Lebenswirklichkeit bezogen. Jia gründete 2017 in Pingyao ein neues Filmfestival und rief 2019 als kultureller Botschafter der Region auch ein Literaturfestival ins Leben. In diesem Zusammenhang entstand sein Dokumentarfilm. Darin beschreiben die hoch angesehenen Schriftsteller*innen Jia Pingwa, Yu Hua und Liang Hong, die drei verschiedenen Generationen angehören, ihre Erfahrungen und deren Einfluss auf ihr Werk in einem urbanisierten China, das sich durch Kulturrevolution, Reformpolitik und Modernisierung von Grund auf gewandelt hat.

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