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Er sollte ein Mann werden, der bereit ist, Frau und Kinder mit dem Armeegewehr zu verteidigen. Doch der Dokumentarfilmer Stéphane Riethauser schert aus dem traditionellen männlichen Rollenbild seiner Genfer Familie aus und erinnert sich an seine Großmutter, die als Frau auch früh eigene Wege ging.

Madame (2019)

Eine Filmkritik von Bianka Piringer

Eine Selfmadefrau und ihr schwuler Enkel

Als Stéphane Riethauser Anfang der 1970er Jahre in eine großbürgerliche Schweizer Familie hineingeboren wird, scheint sein  Lebensweg bereits vorgezeichnet. Auf ihm als Erben liegen hohe Erwartungen, „weil ich ein Zipfelchen habe“, wie er sich erinnert. Die Familie will, dass er ein Mann wie im Bilderbuch wird und so verheimlicht er seine Homosexualität lange Jahre vor den Eltern und sogar vor sich selbst. Am längsten aber scheut er die Konfrontation mit der geliebten, hochbetagten Großmutter.

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In seinem ersten langen Dokumentarfilm betont Riethauser jedoch, dass die mittlerweile verstorbene Frau ebenfalls nicht der klassischen Geschlechterrolle ihrer Zeit entsprach. So wurde sie in gewisser Weise für ihn zu einem Vorbild in Sachen individueller Emanzipation. Riethauser erzählt von seiner Kindheit und Jugend, seinem Versteckspiel mit den Rollenerwartungen und stellt seiner Vita die Biografie der starken Frau gegenüber, die seine Großmutter war. Diese Verknüpfung zweier Abweichungen gegen das geschlechtsspezifische Rollenbild im Patriarchat verleiht dem Film einen besonderen Reiz. Denn Riethauser setzt sich nicht nur mit dem heteronormativen Männerbild seiner Kindheit auseinander, sondern auch mit der Abwertung der Frau, welche dieses impliziert.

Riethauser begann schon mit 13 Jahren, im Kreis der Familie zu filmen. Nicht nur seine Aufnahmen von Feiern und Urlauben, sondern auch anderes privates Bildmaterial findet hier Verwendung. Es zeigt ihn beispielsweise als kleinen Jungen, der Weihnachtsgeschenke bekommt, der die Aufmerksamkeit der stolzen Großmutter genießt. Als über 90-jährige Dame steht Caroline schließlich selbst im Zentrum seines filmischen Interesses, erzählt vor der Kamera über ihr Leben. Riethauser wendet sich in einem Voice-over-Kommentar postum an die Großmutter, der er mit seinem Film all das über sich sagen will, was er zu ihren Lebzeiten nicht konnte.

Caroline war bereits in den 1920er Jahren aus der weiblichen Normbiografie ausgeschert. Ihr Vater, ein italienischer Einwanderer, der in der Schweiz eine Wäscherei gegründet hatte, zwang seine minderjährige Tochter, den Jungen zu heiraten, mit dem sie ausgehen wollte. Das Eheexperiment ging gründlich schief, und Caroline ließ sich scheiden, obwohl sie ein Kind hatte. Ohne Unterstützung von Seiten der Familie oder des Mannes schlug sie sich als Friseurin durch und eröffnete bald ein eigenes Geschäft für Korsette. Die Frauen der Genfer Gesellschaft kauften dort ein und Caroline wurde reich. Sie leistete sich ein eigenes Auto, war die zweite Frau, die in Genf den Führerschein bekam. Eine zweite Ehe folgte und scheiterte, ein zweites Kind war zur Welt gekommen.

Caroline verkaufte Antiquitäten, eröffnete ein Restaurant, ein dritter Mann trat in ihr Leben, doch er konnte ihre geschäftliche Tätigkeit nicht mit seinem männlichen Rollenverständnis des Ernährers vereinbaren. Mit 83 Jahren legt sich Caroline ein neues Hobby zu und malt Bilder. Im Film stellt die stets humorvolle, in Anwesenheit ihres Enkels zu Scherzen aufgelegte Frau fest, sie habe doch ein glückliches Leben so ohne Mann, der ihr auf die Nerven gehe, sie sei körperlich und geistig von allem befreit.

Was die Großmutter sich selbst erarbeiten musste, wurde dem Enkel quasi in den Schoß gelegt, zumindest in materieller Hinsicht. Aber er bekam früh das klassische bürgerliche Rollenbild der Geschlechter eingetrichtert, am Beispiel der eigenen Eltern. „Wenn ich mich anstrenge, beherrsche ich später die Welt und verführe eine schöne Frau“, dachte sich der kleine Junge. In Frauenkleidern durfte er sich nur im Karneval zeigen. Stéphane legt sich als Jugendlicher eine fantasierte Wunschidentität zu, eine Art zweiten Charakter namens Riton, der ein typischer Macho-Held ist. So ein Junge beschimpft die Tennisspielerin Martina Navratilova vor dem Fernsehgerät als Lesbe, findet Forderungen nach einer gendergerechten Sprache albern. Zwar fühlt sich Stéphane zu anderen Jungen hingezogen, aber Riton hat eine Freundin.

Es dauert lange, bis sich der Jurastudent in seinem Tagebuch eingestehen kann, schwul zu sein. Es folgt die Erfahrung sexueller Liebe mit einem Mann und dann das Coming-out den Eltern gegenüber. Riethauser wird Aktivist für Schwulenrechte, aber die Großmutter scheint davon nichts zu bemerken. Eines Tages bezieht sie dann überraschend Stellung.

Dieser schön bebilderte und dabei den Wandel der Zeit dokumentierende Film überzeugt als kluge und selbstironische Introspektion des Autors, sein Männer- und Frauenbild betreffend. Und er berührt als Ausdruck zärtlicher Zuneigung eines Enkels für seine selbstbestimmte Großmutter. Rollenbilder werden nicht nur in Form explizit formulierter Erwartungen weitergegeben. Viel wichtiger für das eigene Selbstverständnis kann, wie hier zu erleben ist, das reale Vorbild einer geliebten Person sein, die sich von Gendernormen nicht einschränken lässt.

Madame (2019)

Im Mittelpunkt des Films steht die Beziehung einer Großmutter zu ihrem Enkel Stéphane Riethauser, dem Filmemacher. Madame ist ein doppeltes Selbstporträt, in dem sich die Matriarchin und ihr homosexueller Enkel sich einander anvertrauen. 


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