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Er hat die Herkunft Andy Warhols erforscht, Draculas Siebenbürgen besucht und ist ums Schwarze Meer gereist. Mit „Kolyma“ treibt Stanislaw Mucha seine Studien um Heimat und die damit verbundene Skurrilität weiter – in Ostsibirien, wo Millionen von Menschen in Gefangenenlagern verreckten.

Kolyma - Straße der Knochen (2017)

Eine Filmkritik von Harald Mühlbeyer

Die Heimat: Ein Friedhof

Stanislaw Mucha ist einer der interessantesten Dokumentarfilmer. Er hat seinen ganz eigenen Stil entwickelt: Er reist mit der Kamera, erforscht eine Gegend anhand ihrer Personen und findet in dieser Gegend genau die skurrilen Charaktere, genau die absurden Situationen, die sein Thema genauestens beschreiben. Die Heimat, die Menschen, die sich mit dieser Heimat auseinandersetzen, das Land, das auf die Menschen einwirkt, die Bewohner, die ihre Region prägen, im Positiven wie im Negativen: In seinem neuesten Film „Kolyma“ ist diese Verbindung zwischen dem Land und den Menschen auf Knochen gebaut. Auf hunderttausendfachem Tod.

An einer Würstchenbude in der Hafenstadt Magadan weiß die Verkäuferin überhaupt nicht, was „Gulag“ bedeutet. Dabei war dieser Ort über viele Jahrzehnte das Tor zur Hölle: Hier startet die Fernstraße nach Jakutsk, die von Zwangsarbeitern gebaut wurde, über 1000 Kilometer durch Ostsibirien. Die Straße der Knochen. In einer Gegend des Grauens.

Nach Sibirien verschickt: Das war im Grunde ein Todesurteil. Wobei der Hinrichtung allerdings jahre-, jahrzehntelange Qual voranging. Kriminelle, Kriegsgefangene, Opfer der stalinistischen und poststalinistischen Staatsparanoia: Sie landeten hier. Bauten die Straße. Schufteten in den Minen. Von Kohle über Kupfer bis Gold und Platin reichen die Bodenschätze im unwirtlichsten Gebiet – heute ziehen viele Russen freiwillig hierher, ein Goldrausch, irgendwo unter Tundra und Taiga ist Sibirien reich. Und es sind häufig die staatstreuesten Russen, die hierherziehen – dass einige Monate vor den Dreharbeiten mehrere Tonnen Gold und Kupfer verschwunden sind: Tja, so sind die Machenschaften hier. Vielleicht waren es einige Bonzen, die sich den Tag vergolden wollten. Vielleicht eine Kommune, die sich was leisten wollte. Aber, da ist sich der Interviewte völlig unironisch sicher: Putin wird es aufklären!

Wir sind als Zuschauer bei einem Jugend-Talentwettbewerb dabei – Jugendliche, die nach der Schule schnellstmöglich wegwollen. Wir treffen ehemalige Gefangene; eine Frau wurde verhaftet, weil sie über die Straße ging; ein anderer prahlt damit, wie viele Leute er ermordet hat. Ein Hobbyhistoriker sammelt Artefakte der Lager, er weiß zu erzählen: 20, 25 Prozent der Häftlinge waren vielleicht unschuldig – aber immerhin über 80 Prozent haben es nicht anders verdient! Und überhaupt: Wer ins Lager kam, der konnte darin fürs Leben lernen. Ein Militärveteran wiederum ist höchst verbittert. Über Politik, über die Geschichte, über seine Heimat. Seine Frau versucht, ihn mit Akkordeonklängen zu beruhigen, wenn er ins Schimpfen kommt.

Und dann gibt es diese unheimlich lustigen Episoden. Episoden, wie sie eigentlich nur Mucha bei seinen akribischen Recherchen finden kann. Da ist einer, der glaubt, mit Elektroschocks kann er die Menschen verjüngen. Die Stromstöße erneuern nämlich die Stammzellen im Körper, und sein Vater ist das arme Opfer, muss barfuß in eine Badewanne steigen und wird an einen Generator angeschlossen …

Opfer, Apologeten, Putinfans, mad scientists: Die Landschaft entlang der Straße der Knochen ist reichhaltig, und vermutlich kann nur sie eine derartige Vielfalt an Charakteren hervorbringen. Hurra-Patriotismus und Resignation, Massengräber und Goldrausch, und darüber stets der alte Mythos eines todbringenden Landstrichs, eines Landes ohne jede Überlebenshoffnung, der in Liedern und Gedichten fortlebt … Ein Schamane in Jakutsk setzt alles in die richtige Perspektive: Nicht nur hier findet man beim Graben die Überreste vieler Toter. Die ganze Erde ist getränkt in Blut, wenn man die Weltgeschichte ansieht …

Kolyma - Straße der Knochen (2017)

Kolyma — Straße der Knochen wird eine Landstraße durch den tiefsten russischen Nordosten genannt. Sie ist 2.000 km lang und verband einst verschiedene Gulags miteinander — und die Kolyma war die Hauptschlagader de s berüchtigten sowjetischen Straflagersystems, das zahlreiche Todesopfer forderte. Dennoch steht bis heute eine Aufarbeitung der damaligen Gräueltaten aus — und die Augenzeugen, die es noch gibt, haben nicht mehr viel Zeit, um von ihren Erfahrungen zu berichten.

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