Die Mitte

Wo liegt das Herz Europas?

Ein Ungar spricht über die Erde unter seinem rechten Fuß. Der Bayer deutet geheimnisvoll auf einen Baum. Ein Pole watet durch den Sumpf, stochert im Trüben. Ein Österreicher zeigt gelassen auf die Schneeberge. Eine Frau aus der Pfalz sagt energisch: "Hier! Genau hier!". Der Litauer reckt seinen Finger gen Himmel: "Dort, wo sonst!" … Ein Sammelsurium der Meinungen und Stimmen, und stets geht es um die eine Frage: Wo liegt die Mitte Europas?

Es gibt zahlreiche Orte, die dies für sich in Anspruch nehmen und mit der Aufnahme der zehn neuen Mitgliedsländer melden sich immer neue Orte mit genau diesem Anspruch. Zwei Jahre lang war der Dokumentarfilmer Stanislaw Mucha (Absolut Warhola) mit seiner Kamerafrau Susanne Schüle quer durch Europa unterwegs, um all die Orte zwischen der Ukraine und Deutschland aufzusuchen, die behaupten, genau in der Mitte Europas zu liegen. Dabei ging es Mucha weniger um die Frage, wo denn nun tatsächlich die geographische Mitte liegt, denn diese Frage können Landvermesser und Geographen sicher leichter beantworten als Filmemacher. Eher suchte und fand er einen Blick auf die unterschiedlichen Sichtweisen auf Europa als politisches Gebilde und als Identifikationsmerkmal.

Ein Europa-Enthusiasmus wie bei den Beitrittsfeierlichkeiten der neuen Mitgliedsländer allerdings bleibt aus, es herrschen in Muchas Europareise eher die skurrilen und pessimistischen Töne vor. So bleibt einem das Lachen im Halse stecken, wenn in Braunau am Inn eine Schar japanischer Touristen Hitlers Geburtshaus abknipsen. Und je weiter es gen Osten geht, umso mehr mischt sich eine bittere Note in Muchas Beobachtungen. Denn der Alltag in der Ukraine, in Polen, Litauen oder sonstwo wird beherrscht vom Saufen und einer allgegenwärtigen Resignation, was im litauischen Purnuskes deutlich wird, wenn die Frauen von den Männern erzählen, die noch den letzten Heller versaufen, bevor sie sich am nächsten Laternenfall aufhängen. Immer wieder begegnet Mucha Spinnern, schrägen Vögeln, Lokalpatrioten, dem letzten Chassidim und einer Frau im Bärenkostüm, die in der Mitte Europas vergeblich auf Touristen wartet, er lässt sie reden und greift selten ein, sondern gibt ihnen Raum und Zeit, ihre Sicht und ihre Visionen Europas mitzuteilen, die meist meilenweit von den Ansichten der Politiker entfernt sind – Europa von unten gewissermaßen.

Wo nun die tatsächliche Mitte Europas liegt, diese Frage lässt sich auch am Schluss des Filmes nicht endgültig klären, doch wo das Herz Europas schlägt, ist klar – bei den Menschen, die es bevölkern.

Die Mitte

Ein Ungar spricht über die Erde unter seinem rechten Fuß. Der Bayer deutet geheimnisvoll auf einen Baum. Ein Pole watet durch den Sumpf, stochert im Trüben.

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