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Eine Frau, ihr Kindermädchen und ein ungeborener Werwolf – das sind die schaurig-schönen Zutaten, aus denen Juliana Rojas und Marco Dutra ihr Großstadtmärchen zubereiten. Der Horror hat in „Gute Manieren“ allerdings einen ungewöhnlichen Ursprung.

Gute Manieren (2017)

Eine Filmkritik von Falk Straub

Schaurig-schönes Großstadtmärchen

Wenn südamerikanische Filme von Klassenunterschieden erzählen, richten sie ihren Blick gern auf Privilegierte und deren Personal. Auch in „Gute Manieren“ ist das Verhältnis zwischen reicher weißer Mutter, armem schwarzen Kindermädchen und dem Sohn ein ganz besonderes. Statt sauren Sozialrealismus macht das Regie- und Drehbuchduo Juliana Rojas und Marco Dutra daraus jedoch bittersüßen magischen Realismus.

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Wenn Clara (Isabél Zuaa) und Ana (Marjorie Estiano) auf São Paulo blicken, sehen sie die gleiche Silhouette. Die beiden Frauen und ihre Ansichten könnten allerdings kaum weiter voneinander entfernt sein. Clara haust in einem Zimmerchen in der Peripherie, ihre tiefgläubige Vermieterin Dona Amélia (Cida Moreira) stets im Nacken. Die grün am Nachthimmel schimmernden Stahl- und Glaspaläste scheinen für Clara unerreichbar. Von Anas Balkon aus sind die Konsumtürme ganz nah und klar. Dennoch kommen die zwei zusammen – erst räumlich, dann rational und emotional.

Ana ist ungewollt schwanger. Von ihrer Familie verstoßen, lebt sie allein in ihrem sterilen Luxusappartement. Da sie als privilegierte Tochter reicher Landwirte außer Shopping, Feiern und Aerobic vor dem Fernseher nicht viel kann, engagiert sie Clara als zukünftiges Kindermädchen, im Grunde aber als Mädchen für alles. Clara zieht bei Ana ein, putzt, kocht, stellt das Babybettchen auf und streicht das Kinderzimmer blau, als feststeht, dass es ein Junge wird. Vor allem aber bringt sie Ana, die augenscheinlich nicht viel auf einen früheren Benimmkurs gibt, Manieren bei. Alkohol ist tabu, gesunde Ernährung Pflicht. Doch die guten Vorsätze halten nicht lange.

Je stärker der Mond zunimmt, desto mehr nimmt Anas Nachtruhe ab. Schlafwandelnd stillt sie ihre Fleischeslust. Erst vergeht sie sich am Kühlschrank, dann an streunenden Katzen. Und im Schlafzimmer rückt sie ihrer Angestellten auf den Leib. Liegt es am Ungeborenen in ihrem Bauch? Eine gezeichnete Erinnerung an die Nacht der Zeugung, in der ein Biest sein Unwesen treibt, legt dies zumindest nahe. Wenn einen Schnitt später schließlich auch der Gynäkologe vom großen Mund, den großen Augen und Händen des Fötus spricht, bleibt nur die Assoziation, dass in Anas Bauch ein kleiner böser Wolf schlummert.

Schon in ihrem ersten gemeinsamen Spielfilm Trabalhar Cansa (2011) verwoben Juliana Rojas und Marco Dutra gesellschaftliche Realitäten mit fantastischen Hirngespinsten. Doch während sie das Übersinnliche seinerzeit ganz gemächlich ins Drama einfädelten, ist Gute Manieren von der ersten Minute an anders. Die Titelcredits rollen vor einer gemusterten Tapete ab. Von der Tonspur wabern Choräle zu Harfen- und Flötentönen in den Kinosaal. Die durch Ausleuchtung und Farben stilisierte Stadt verströmt eine kulissenhafte Künstlichkeit.

In der ersten Hälfte halten sich Realismus und Fantastik die Waage. Anas nächtlicher Heißhunger auf rohes Fleisch ließe sich auch medizinisch erklären. Als sich der Horror schließlich Alien-nesk Bahn bricht, vollführt auch das Drehbuch einen harten Schnitt. Aus einem fantastischen Sozialdrama, einer übersinnlichen Liebesgeschichte zweier Frauen wird ein modernes Großstadtmärchen über Mutterliebe, Kinderfreundschaften, das Erwachsenwerden und das Ausgestoßensein. Denn das Monster ist kein böses, sondern ein kleiner Junge. Er heißt Joel (Miguel Lobo) und möchte kurz vor seinem 7. Geburtstag eigentlich nur dazugehören.

Es ist erstaunlich, wie gut diese seltsame Mischung funktioniert, die so viele andere Filme, von Jacques Tourneurs Katzenmenschen (1942) bis John Landis‘ American Werewolf (1981), durch ihren metaphorischen Umgang mit Vegetarismus und Fleischgenuss aber ganz besonders Julia Ducournaus Raw (2016) ins Gedächtnis ruft. Juliana Rojas und Marco Dutra langweilen keine der 135 Minuten. In der ersten Stunde halten sie die Handlung durch eine pulsierende Ungewissheit, in der zweiten durch einen bewegenden Mutter-Sohn-Konflikt am Laufen.

Hier liefern Isabél Zuaa und Miguel Lobo im Zusammenspiel eine mitreißende und herzzerreißende Performance. Auch wenn nicht jede Metapher aufgeht und nicht jeder Spezialeffekt überzeugt, ist Gute Manieren ein schaurig-schönes Plädoyer gegen soziale Ungleichheit. Wenn der Mob mit Fackeln und Mistgabeln heranstürmt, hat sich das Publikum längst auf die Seite des liebenswerten Monsters und seiner Mutter geschlagen.

Gute Manieren (2017)

Clara, eine einsame Krankenschwester aus einem Vorort São Paulos, wird von der wohlhabenden und geheimnisvollen Ana als Kindermädchen für ihr ungeborenes Kind eingestellt. Die beiden Frauen entwickeln eine enge Verbundenheit, doch als das Kind geboren wird, ändert sich alles. Denn das kleine Wesen entpuppt sich als Werwolf.

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