Chinesisches Roulette (1976)

Eine Filmkritik von Marie Anderson

Die Familienhölle der Christs

Da verabschiedet sich eine wohlhabende Familie für das Wochenende voneinander, das die mächtig beschäftigten Eltern außer Haus verbringen werden: Vater Gerhard Christ (Alexander Allerson) angeblich zur Geschäftsreise in Oslo und Mutter Ariane (Margit Carstensen) in Mailand, während die gehbehinderte Tochter Angela (Andrea Schober) vorgibt, mit ihrem stummen Kindermädchen Traunitz (Macha Méril) daheim zu bleiben. Doch die Pläne der Christs sehen allesamt insgeheim ganz anders aus: Gerhard quartiert sich mit seiner französischen Geliebten Irene (Anna Karina) auf dem Schloss der Familie in Franken ein, wo fatalerweise auch Ariane mit ihrem Liebhaber Kolbe (Ulli Lommel) eintrifft, der für ihren Mann arbeitet. Nach anfänglichem Entsetzen über die unvermittelte Begegnung in dieser Konstellation bricht das unangenehm berührte Quartett schlichtweg in ironisches Gelächter aus, und es läuft darauf hinaus, das Wochenende gemeinsam im Schloss zu verbringen, das von der zynischen Haushälterin Kast (Brigitte Mira) und ihrem vergeistigt wirkenden Sohn Gabriel (Volker Spengler) verwaltet wird. Als am Abend auch noch Tochter Angela mit ihrem Kinderfräulein Traunitz auftaucht, ensteht ein bedrückendes Szenario mit ungeheuer dichter Anspannung, das sich auf emotionale Explosionen zubewegt.

Es ist die frühreife, verbitterte Tochter Angela, die ihre Eltern längst bespitzelt und kontrolliert, sich ungeliebt und vernachlässigt mit ihrer Behinderung innerhalb der Familie fühlt und nun bissig und provokant die Regie im Schloss übernimmt. Dabei zwingt sie der skurrilen Gesellschaft beim gemeinsamen Abendessen mit allen acht Anwesenden das Ratespiel „Chinesisches Roulette“ auf, bei dem in wilden Fantasierereien die Identität einer Person im Raum aufgespürt werden muss. Während der diabolisch anmutenden Dialoge spitzt sich vor allem die unterkühlte bis feindselige Stimmung zwischen Mutter und Tochter zu, die sich schließlich gewaltsam entlädt …

Verfügt Chinesisches Roulette von Rainer Werner Fassbinder einerseits über die konzentrierte Intensität eines grotesken Bühnenstücks mit acht markanten Protagonisten, erscheinen doch auch farbenprächtige Bilder einer idyllischen Natur, der die Kälte der Charaktere effektvoll kontrastiv gegenübersteht. Das Familiensystem der Christs und seine unmittelbare Umgebung aus Angestellten erscheint als ausweglose Hölle der unauslotbaren Abhängigkeiten, die anscheinend kaum wohlwollender emotionaler Art sind – hier ereignen sich offensichtlich konspirative Interaktionen und Bespitzelungen der Beteiligten untereinander in den verschiedensten Konstellationen, wobei Tochter Angela von allen am besten informiert ist und ihre Trümpfe vor allem beim von ihr forcierten „Chinesischen Roulette“ treffsicher ausspielt, als habe sie diese Abrechnung zu Acht von langer Hand geplant. Bei derart schwelenden Verstrickungen besteht für den radikalen Regisseur, der auch das Drehbuch zum Film verfasste, offenbar keine Hoffnung auf klärende Aussprachen, die nicht einmal ansatzweise anklingen, so dass am Ende die Pistole spricht.

Kaum zufällig dürfte der Name „Christ“ gewählt sein, ebenso wenig wie die Namen der Tochter „Angela“ und des erwachsenen Sohnes der Haushälterin „Gabriel“, der mit seinen kräftig religiös geprägten Texten, die er in der Gesellschaft zum Besten gibt, wie eine moralische Instanz in Anlehnung an den Erzengel die Sphäre der Emotionen berührt, die im Schloss allenfalls in ihren negativen Ausformungen zur Geltung kommen. Dieser plakative Zynismus Rainer Werner Fassbinders fokussiert sich noch einmal am Ende des Films, wenn flankiert von den Klängen des „Kyrie eleison“ ein Schriftzug mit der Formel der Eheschließung in Liebe und Treue „bis daß der Tod euch scheide“ erscheint – als direkte Frage, deren Zielrichtung der individuellen Interpretation überlassen bleibt.

Chinesisches Roulette ist ein wunderbar bitterer, böser Film, dessen durchweg brillante Darsteller mit ihrer intensiven Mimik – die ausführlich und eindringlich von der häufig distanzlosen Kamera Michael Ballhauses zur Schau gestellt wird – genau diese unstimmigen Stimmungen transportieren. Hier herrscht Häme zuvorderst bei Angela, aber auch bei ihrer Mutter Ariane, dem Kinderfräulein Traunitz und der Haushälterin Kast, während die Männer und Vater Gerhards Geliebte Irene in peinlich berührter bis gleichgültiger Pose verharren. Nur der bei Zeiten beinahe infantil erscheinende Gabriel wirkt frei von Wertung, als sei er dem Geschehen als eine Art beteiligter Kommentator beigesellt. Die kleine Familienhölle auf dem Schloss, innerhalb welcher sich die Ehefrau scheinbar prächtig mit der Geliebten versteht, sie sich kleinen Zärtlichkeiten hingeben und einander die Haare machen, zeichnet sich durch ihre dynamischen Verzerrungen von konfliktträchtigen Beziehungen aus, die ihren Höhepunkt ganz am Ende des Films erfahren, wenn der zweite Schuss aus der Pistole fällt, dessen Zielrichtung völlig offen bleibt, der Mord oder Selbstmord bedeuten – oder aber auch schlichtweg ohne einen Körpertreffer im düsteren Schloss verhallen kann.
 

Chinesisches Roulette (1976)

Da verabschiedet sich eine wohlhabende Familie für das Wochenende voneinander, das die mächtig beschäftigten Eltern außer Haus verbringen werden: Vater Gerhard Christ (Alexander Allerson) angeblich zur Geschäftsreise in Oslo und Mutter Ariane (Margit Carstensen) in Mailand, während die gehbehinderte Tochter Angela (Andrea Schober) vorgibt, mit ihrem stummen Kindermädchen Traunitz (Macha Méril) daheim zu bleiben. Doch die Pläne der Christs sehen allesamt insgeheim ganz anders aus.

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