Virgin Tales

Eine Filmkritik von Claire Horst

Die Hüter des Jungfernhäutchens

40 Prozent der US-Amerikaner glauben an die Schöpfungslehre, 25 Prozent bezeichnen sich als evangelikale Christen, nehmen also die Bibel wörtlich. Das behauptet zumindest der Dokumentarfilm Virgin Tales. Die neunköpfige Familie Wilson, die die Schweizer Regisseurin Mirjam von Arx zwei Jahre lang begleitet hat, gehört zu ihnen.
Arx ist ein kleines Wunder gelungen: Das filmische Porträt einer radikalkonservativen Familie, die dennoch nie bloßgestellt oder der Lächerlichkeit preisgegeben wird. Vater Randy Wilson ist der Erfinder der so genannten „Virginity Balls“ (Jungfräulichkeitsbälle). Bei diesem Ritual schwören junge Mädchen, mit dem Sex bis zur Ehe zu warten. Begleitet werden sie dabei von ihren Vätern.

Die Kamera zeigt, wie die teilweise erst Vierjährigen in ihren blütenweißen Tutus über das Parkett gleiten, wie ihre Mädchenhaftigkeit und Unschuld gefeiert und ausgestellt wird, bis diese Anbetung der Lolitahaftigkeit fast einen pädophilen Beigeschmack erhält. Seit 1998 gibt es diese Bälle, die sich mittlerweile von Colorado aus über 48 US-Bundesstaaten verbreitet haben.

Eigentlich könnte es rührend sein, wie diese Männer ihre Liebe zu den eigenen Töchtern ausdrücken, wie sie ihre Kinder ins Leben begleiten und schwören, sie immer beschützen zu wollen. Allerdings tun sie das notfalls auch gegen den Willen der Töchter, wie Randy zugibt. Beunruhigend ist auch die begleitende Symbolik: Gemeinsam stellen die Mädchen ein überdimensionales Holzkreuz auf, das sie mit einem Brautschleier schmücken. Arm in Arm mit den Vätern schreiten sie zu dem Kreuz und legen eine weiße Rose darunter ab – die natürlich für die Jungfräulichkeit steht.

Randy Wilson hat eine sehr sympathische Seite. Der Stolz auf seine Kinder und die Liebe zu seiner Frau sind ihm deutlich anzumerken. Und auch die Kinder lassen sich nicht so einfach als hinterwäldlerische Fanatiker abtun. Die fünf Töchter sind allesamt intelligente, hübsche und selbstbewusste junge Frauen, keineswegs die schüchternen Mäuschen, die man vielleicht in derart patriarchal geprägten Strukturen erwarten würde. Vieles haben die Eltern also richtig gemacht, scheint es.

Jordyn lebt mit ihren 20 Jahren noch zu Hause. Sie will Hausfrau und Mutter werden. Eine Ausbildung sei da nur Geldverschwendung, sagt sie. Immer wieder erzählt sie von ihrer Sehnsucht nach einer Beziehung und ihrem Vertrauen auf Gott, der ihr schon den richtigen Mann senden werde. Wie ihre Geschwister will sie sogar mit dem ersten Kuss auf die Eheschließung warten. In der Zwischenzeit gibt sie Anstandsunterricht für junge Frauen. Dort lernen die Mädchen, Wasser aus einem Springbrunnen zu trinken, ohne den Hintern herauszustrecken, oder das Dekolleté beim Bücken immer mit einer Hand zu bedecken.

Die Regisseurin enthält sich jeglicher Kommentare. Die Einblendung von zeitgleich entstandenen Aufnahmen verdeutlicht aber, in welchem Kontext die Wilsons zu verorten sind: Demonstrationen gegen Abtreibung, gegen die Homo-Ehe oder gegen die Präsidentschaftskandidatur von Barack Obama. Wenn der Vater eine Gruppe von Pfarrern nach Washington begleitet, um ihnen die christlichen Wurzeln der Verfassung näherzubringen, wenn die Mutter auf einer Homeschooling-Konferenz erklärt, dass sie es Gott überlasse, den Kindern Algebra beizubringen, wird die Gefährlichkeit der Bewegung deutlich. Ist ein ethisches Leben auch ohne Glauben möglich, wird Vater Wilson einmal gefragt. Nein, sagt er. Wer nicht an Jesus glaubt, kommt in die Hölle, sei er auch ein noch so guter Mensch.

Hier wird nicht allein der Körper der Frauen verteidigt. Das wird spätestens deutlich, als der Ehemann der ältesten Tochter, ein Soldat, das Wort „Terroristen“ synonym zu „Muslime“ gebraucht. Die Wilson-Söhne werden zu „Kriegern“ erzogen, beim zugehörigen Initiationsritual wird mit Schwertern und Rüstungen hantiert. Wie der zarte und sensible 16-jährige Logan sich um ein „männliches“ Auftreten bemüht, ist herzzerreißend. Diese Verknüpfung von Nationalismus und Antifeminismus ist nicht überraschend – erschreckend ist sie trotzdem.

Auch in Deutschland leben bereits 1,3 Millionen evangelikale Christen, betont die Regisseurin, die eine Kampagne zur sexuellen Aufklärung ins Leben gerufen hat – und die evangelikale Kirche gewinnt derzeit schneller Anhänger als alle anderen christlichen Gemeinden. Der Film vermittelt eine Innensicht dieser Bewegung und ist dabei an keiner Stelle langweilig. Eher stockt einem der Atem, so unfassbar sind einige der Bilder.

Virgin Tales

40 Prozent der US-Amerikaner glauben an die Schöpfungslehre, 25 Prozent bezeichnen sich als evangelikale Christen, nehmen also die Bibel wörtlich. Das behauptet zumindest der Dokumentarfilm „Virgin Tales“. Die neunköpfige Familie Wilson, die die Schweizer Regisseurin Mirjam von Arx zwei Jahre lang begleitet hat, gehört zu ihnen.
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