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Vielen jungen Menschen, die die Sahara nach Norden durchqueren wollen, sind die Gefahren nicht bewusst. In einer karitativen Unterkunft in Mali am Rande der großen Wüste treffen sie auf Gestrandete, die zurückkehren. Dieser Dokumentarfilm erzählt über Migration aus afrikanischer Perspektive.

The Last Shelter (2021)

Eine Filmkritik von Bianka Piringer

Ein Leuchtturm am Rande der Wüste

Dicke Tränen rollen Esthers Wangen hinab. Die 16-Jährige schweigt beharrlich und schaut am Berater des Migrationszentrums vorbei, während er ihr die Gefahren der Saharadurchquerung für junge Frauen schildert. Eric Kamem bemüht sich um ihr Vertrauen, erzählt ihr, dass er selbst einmal als Reisender in Not geriet und hier in Gao Hilfe bekam. Der Koordinator der Caritas-Einrichtung in der malischen Stadt am Rande der großen Wüste will Esther dazu bewegen, entweder zu bleiben oder zurück nach Burkina Faso zu gehen. Esther aber will nicht nur ihrer Heimat, sondern auch einer unglücklichen Kindheit den Rücken kehren. Ihr Ziel heißt Algerien, das in ihrer Vorstellung das Tor zu einem neuen, selbstbestimmten Leben darstellt.

Der junge Regisseur Ousmane Samassékou stammt selbst aus Mali. Er hat seinen Dokumentarfilm unter anderem seinem Onkel gewidmet, der vor über 30 Jahren fortging und spurlos verschwand. The Last Shelter ist Teil des filmischen Projekts Generation Africa. Es umfasst eine Reihe aktueller kurzer und langer Dokumentarfilme zum Thema Migration, die allesamt von afrikanischen Filmemachern gedreht sind. Samassékou hat den Alltag im Migrationszentrum von Gao beobachtet. Es liegt am Beginn einer stark frequentierten Route durch die Sahara in Richtung Algerien. Migranten, die nach Norden wollen, und solche, die zurückkehren oder von Algerien abgeschoben wurden, können sich hier eine Weile ausruhen. Sie bekommen medizinische Behandlung, Verpflegung, ein Nachtlager und ausführliche Beratung. 

Kamem und seine Mitarbeiter*innen sehen es als eine wichtige Aufgabe an, junge Leute, die nach Europa wollen, zur Rückkehr zu bewegen. So erzählt der Koordinator auch Esther, dass bewaffnete Gruppen, Erpresser oder Dschihadisten auf dem langen Reiseweg darauf lauern, Menschen wie sie in ihre Fänge zu kriegen. Und selbst wenn sie es unversehrt bis nach Algerien schaffe, werde sie sich dort wohl prostituieren müssen. Der Berater legt Esther und ihrer Zimmergenossin Kadi nahe, entweder zurückzugehen oder in Gao zu bleiben. Die jungen Frauen könnten hier Englisch lernen und andere Schulfächer belegen. Aber die Besucher*innen des Zentrums treffen ihre Entscheidung selbst, wer partout nach Norden will, wird nicht aufgehalten.

Die verschlossene Esther weint viel, sie nutzt die Ruhezeit hier im Zentrum, um sich im Stillen mit ihrer Vergangenheit auseinanderzusetzen und ihre Pläne gründlich zu überdenken. Sie schätzt sichtlich die Aufmerksamkeit, die ihr hier zuteil wird, und auch die Gesellschaft anderer Migrant*innen. Die gegenseitige Haarpflege, die Gespräche, das gemeinsame Fernsehen oder die Brettspiele schaffen ein Gefühl der Solidarität und Geborgenheit. Die einsame Natacha, die mit den Fingern zeigt, wie viele Jahre sie schon hier wohnt, wird von Esther und Kadi ein wenig aus der Reserve gelockt. Was sie erlebt hat, muss schlimm gewesen sein. Während eine Frau von ihrer Gefangenschaft in Algerien und den Vergewaltigungen erzählt, bleibt sie der Kamera verborgen.

Auch unter den jungen Männern, die im Zentrum in der Mehrzahl sind, kursieren Schauergeschichten. Die Berichte über die vielen, die unterwegs ums Leben kamen, sind nicht übertrieben. Am Anfang des Films sieht man ein paar der Männer am Rande der Wüste Gräber anlegen. Hier sei der Boden voll von Gebeinen, sagt einer. Namensschilder stecken im Sand, auf manchen sind nur Vornamen oder das Herkunftsland verzeichnet – das ist alles, was man von den jung Verstorbenen weiß. Im Zentrum ziehen die Tage scheinbar träge dahin. Ein Besucher sagt, man dürfe die eigenen Ziele nie aufgeben. Kamem und seine Leute organisieren Transporte für diejenigen, die wieder heimkehren wollen. Viele aber schämen sich, diesen Schritt zu gehen. 

Die Voice-Over-Stimmen bedrängen sich einmal in einer eindrucksvollen Montage gegenseitig, überlappen sich, Wortfetzen über die erbarmungslose Wüste hängen in der Luft. Die Kamera schaut dazu hinaus in die gleichgültige Weite aus Sand, auf das Blau das Himmels über ihr. Ein andermal filmt sie einen Sandsturm oder das zerfetzte, ausgeblichene Hemd, das an den Dornen eines Strauches mitten im großen Nichts hängt. Samassékou ist ein berührender, auch stilistisch beeindruckender Film gelungen, der Anteil nimmt, ohne zu werten. Wenn er Partei ergreift, dann höchstens indirekt, indem er den Wert einer solchen Einrichtung vor Augen führt. Sie bietet Menschen eine Insel zum Verschnaufen in einem Meer tödlicher Gefahren und allzu oft fataler Illusionen.

The Last Shelter (2021)

Die Wüste ist nicht einfach nur eine Anhäufung von Sand. Der Wind entlockt ihr ein seltsames Pfeifen. – Ist es Rufen oder Klage? Dort, wo es noch ein Zurück geben kann, sammeln sich die, die aufgebrochen sind, auf den langen Weg in ein besseres Leben. Bekommen ein Dach, ein Bett, ärztliche Hilfe. Warten. Tauschen sich aus über Preise, Geheimtipps, spielen Schach in der Halle. Die Mitarbeiter der Caritas-Einrichtung versuchen, sie dazu zu bewegen, wieder nach Hause zu gehen. Doch das scheint unmöglich – für einige, weil die Scham zu groß ist, es nicht geschafft zu haben, und für andere, weil sie erst gar kein Zuhause haben. Ein ergreifender Film über den Mut, leben zu wollen, von afrikanischer Seite aus gesehen. (Quelle: DOK.fest München)

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