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Der Schweizer Filmemacher Markus Imhoof nähert sich den großen Fluchtbewegungen der vergangenen Jahre auf sehr persönliche Weise an und verknüpft diese mit einer kindlichen Episode aus seiner eigenen Biografie — der Begegnung mit dem italienischen „Ferienkind“ Giovanna.

Eldorado (2018)

Die Schattenseiten auf dem Weg ins Paradies

Bereits im Jahre 1980 hat der Schweizer Regisseur Markus Imhoof mit „Das Boot ist voll“ einen Film über Flucht und Vertreibung gemacht. Seine Aufarbeitung der unrühmlichen Geschichte der Schweiz während des Zweiten Weltkrieges brachte ihm 1981 nicht nur zahlreiche Preise bei der Berlinale ein, sondern auch den Ruf, ein „Nestbeschmutzer“ zu sein.

Nun wendet er sich nach vielen Jahren erneut der Thematik Flucht zu – dieses Mal freilich in dokumentarischer Form, aber nicht minder bewegend. Und das liegt vor allem daran, dass er einen ganz persönlichen Zugang findet, indem er eine Episode aus seiner Kindheit mit Beobachtungen aus der „Festung Europa“ verknüpft.

Giovanna hieß das Mädchen, das damals im Jahre 1945 als sogenanntes Ferienkind aus dem ausgebombten Mailand in die Schweiz und zu Markus Imhoofs Familie kam. Ganz abgemagert war sie damals und grau, wie er im Off-Kommentar die erste Begegnung mit ihr beschreibt. Mit der Zeit aber wurde sie von Imhoofs Familie trotz rationierter Lebensmittel wieder aufgepäppelt und war für den Jungen bald so etwas wie eine große Schwester, mit der er sich auch nach deren Rückkehr nach Italien noch Briefe schrieb. Diese Begegnung prägte den Regisseur so sehr, dass er für Das Boot ist voll eine Darstellerin für die Rolle des Flüchtlingsmädchen Kitty suchte, die Giovanna gleichen sollte. Zudem sollte er später selbst zehn Jahre in der Stadt leben, aus der Giovanna stammte.

Und so ist es kein Zufall, dass ihn der zweite Erzählstrang seines Filmes ebenfalls nach Italien führt – genauer gesagt auf ein Schiff, das im Rahmen der Operation „Mare Nostrum“ Flüchtlingsboote aus dem Meer fischt und ans rettende italienische Festland bringt. Es sind zwar Bilder, die man in den vergangenen Jahren auf ähnliche Weise schon häufig gesehen hat, Imhoof und sein Kameramann Peter Indergand verstehen es aber, das scheinbar Bekannte durch neue Blickwinkel und ungewöhnliche Aufnahmen bewegender und menschlicher zu gestalten, als dies die Flut der Nachrichtenbilder zulassen.

Die dramatische Rettung auf hoher See, die Erschöpfung der Geflüchteten, die Prozeduren, die später an Land folgen, und das Leben in den Erstaufnahme-Einrichtungen – all das begleitet Imhoof mit teilnehmenden Interesse, schlägt dabei immer wieder den Bogen zu seiner Begegnung mit Giovanna, aber auch zu seiner Familie, in der sich ebenfalls viele Geschichten von Emigration oder Einwanderung in neue Länder und Kulturen finden.

Besonders bemerkenswert bei seiner Aufarbeitung heutiger Fluchtschicksale ist dabei, dass Imhoof auch gerne verdrängten Missstände wie die Ausbeutung und die Perversionen einer globalisierten Wirtschaft schildert, die er teilweise mit unter hohem persönlichen Risiko entstandenen Bildern in illegalen und von der Mafia kontrollierten Migrantenghettos in Süditalien unterlegt. Hier blüht nicht nur die Prostitution, sondern er findet auch ein besonders krasses Beispiel für die Auswüchse eines entfesselten globalisierten Kapitalismus: In Süditalien werden viele der aus Afrika stammenden Migranten bei der Tomatenernte eingesetzt. Die weiterverarbeiteten Produkte sind dann dank EU-Subventionen so günstig, dass sie nach Afrika verkauft werden, während die dort angebauten Tomaten mit den teilweise in Sklavenarbeit produzierten Erzeugnissen preislich nicht konkurrieren können, so dass etwas entsteht, das Imhoof das „perfekte System“ – und zwar mit einem deutlich kriminellen Anteil – nennt.

Immer wieder findet man in Eldorado solche oder ähnliche Beobachtungen, die verdeutlichen, wie viel derzeit falsch läuft und wie sehr wir uns schon an die obszöne Logik europäischer Realpolitik in Sachen Flucht und Migration gewöhnt haben. Da ist beispielsweise ein Schweizer Regierungsbeamter, der gegen die Unterscheidung von Asylsuchenden und sogenannten „Wirtschaftsflüchtlingen“ wettert und darauf verweist, dass selbst eine Gemeinde in der Schweiz zu Zeiten einer Hungersnot „überflüssige“ Menschen in die Fremde schickte, damit der Rest zuhause überleben konnte.

Seine enorm vielschichtigen Aspekte und Facetten, die er immer wieder mit der eigenen Biographie verknüpft, machen Eldorado zu einem außergewöhnlichen Werk über Flucht und ihre Ursachen, das den Blick für Zusammenhänge weitet, die nur auf den ersten Blick auf die spezifische Situation der Schweiz verweisen, aber in Wirklichkeit universell und zutiefst human sind.

Eldorado (2018)

Ausgehend von seiner persönlichen Begegnung mit dem italienischen Flüchtlingskind Giovanna im 2. Weltkrieg erzählt Markus Imhoof, wie Flüchtlinge und Migranten heute behandelt werden: auf dem Mittelmeer, im Libanon, in Italien, in Deutschland und in der Schweiz.

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