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In „Sex“ von Dag Johan Haugerud kommen zwei Männer und deren Familien über Geschlechterbilder und persönliches Empfinden ins Grübeln.

Sex (2024)

Eine Filmkritik von Andreas Köhnemann

Let’s talk about…

Wenn sich US-RomComs oder europäische Beziehungskomödien mit Geschlechterrollen befassen, wird oft auf wenig originelle Weise mit Klischees gespielt. Schade ist das nicht zuletzt deshalb, weil etwa diverse Screwball-Klassiker von Ernst Lubitsch oder Howard Hawks aus den 1930er Jahren schon mal deutlich weiter waren, als viele später entstandene Filme.

Das tragikomische Werk Sex des norwegischen Drehbuchautors und Regisseurs Dag Johan Haugerud lässt mit seinen pointierten Dialogen und mit seiner clever aufgebauten Situationskomik an diese frühen Kinosternstunden denken. Das Skript und dessen Umsetzung muten zum Teil wie ein Gedankenexperiment an. So haben die handelnden Figuren zum Beispiel keine Namen. Die Kamera von Cecilie Semec präsentiert uns gelegentlich sehr schöne Stadtaufnahmen, was zum Beruf der beiden Protagonisten passt: Als Schornsteinfeger sind sie auf den Dächern unterwegs und blicken ins Weite. Vor allem geht es hier aber um eine nach innen gerichtete Beobachtung – und um das gesprochene Wort, das die Befunde dieser Introspektion vermitteln soll.

Die zwei männlichen Hauptfiguren leben beide in monogamen heterosexuellen Ehen und haben Kinder. Zu Beginn erzählen sie sich gegenseitig während ihrer Mittagspause von aktuellen persönlichen Ereignissen. Der Geschäftsführer (Thorbjørn Harr) hat, wie er berichtet, in letzter Zeit Träume, in denen David Bowie (oder zumindest eine Person, die diesem ähnelt) ihn auf eine Art und Weise ansehe, als sei er, der Träumende, eine Frau.

Sein Kollege, der Schornsteinfeger (Jan Gunnar Røise), hört ihm aufmerksam zu – und vertraut ihm im Anschluss an, dass er kürzlich zum ersten Mal Sex mit einem Mann hatte. Völlig ungeplant, mit einem unverblümt flirtenden Kunden. Und es habe sich gut, sogar unglaublich angefühlt. Als schwule Erfahrung sieht der Schornsteinfeger dies hingegen nicht an – sondern einfach nur als Erfahrung. Auch sei er nicht fremdgegangen, meint er, denn seine Frau (Siri Forberg) wurde bereits über alles in Kenntnis gesetzt.

Im weiteren Verlauf sehen wir, wie der Schornsteinfeger und seine Gattin den Vorfall in mehreren Anläufen diskutieren. Fühlt sie sich verletzt, betrogen? Ist sie eventuell neidisch? Hat sich die langjährige Beziehung der beiden und ihr Blick auf ihn dadurch gewandelt? Die Ehekrise, in die das Paar zu geraten droht, hat etwas Tragikomisches. Der Film nimmt die Beteiligten allerdings durchweg ernst – und wirft in den offenen Gesprächen der beiden die spannende Frage auf, was Intimität eigentlich bedeutet.

Ebenso setzt sich der Geschäftsführer intensiv mit seinen Gefühlen auseinander, auch in der Interaktion mit seiner Frau (Birgitte Larsen). Er glaubt, seine Stimme habe sich verändert – und möglicherweise ist da etwas mit seiner Haut nicht in Ordnung? Wirklich bezaubernd sind die Gespräche, die er mit seinem Teenager-Sohn (Theo Dahl) führt. Ohnehin dürfen Männergespräche hier mal richtig emotional sein, ohne dass dies als Gag geschieht. Der Geschäftsführer und der Schornsteinfeger machen einander Komplimente, an denen nichts peinlich ist. Die Männer in Haugeruds Film sind überaus fragile Geschöpfe, aber niemals Witzfiguren. Sind die beiden Erwachsenen in der Midlife-Crisis? Und wenn ja, was heißt das überhaupt? Macht sich der Jugendliche zu viele Gedanken, wenn er als 13-Jähriger schon besorgt darüber ist, wie er später mal sein Leben finanzieren soll?

Sex ist ein kluges, äußerst charmantes Werk über sexuelle Identität, über das Hinterfragen normativer Vorstellungen und den Versuch, sich frei zu entfalten, ohne daraus einen Ego-Trip werden zu lassen. Am Ende des Films bekommen wir eine sehr interessante Performance zu sehen. Und in einer Sequenz taucht eine unfassbar lustige, schlagfertige Ärztin (Anne Marie Ottersen) auf, die dringend auch unzähligen anderen Film- und Serienfiguren (sowie realen Personen) als Ratgeberin zur Seite stehen sollte.

Gesehen auf der Berlinale 2024.

Sex (2024)

Zwei Schornsteinfeger, die beide in monogamen heterosexuellen Ehen leben, finden sich jeweils in Situationen wieder, die sie dazu anregen, ihre Vorstellungen von Sexualität und Geschlechterrollen zu überdenken.

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