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Atom Egoyans „Seven Veils“ ist parallel zu einer Operninszenierung entstanden und erzählt von Missbrauch im Theaterbetrieb sowie den Fallgruben autobiografisch geprägter Kunst.

Seven Veils (2023)

Eine Filmkritik von Mathis Raabe

Ein schlechtes Therapiezimmer

Die Geschichte der Salome stammt ursprünglich aus der Bibel und wurde später von Oscar Wilde als Drama und dann von Richard Strauss als Oper interpretiert. Durch ihren „Tanz der sieben Schleier“ kann die Titelfigur den König Herodes dazu bringen, Johannes, den Täufer köpfen zu lassen. Während sie das im Neuen Testament noch auf Wunsch ihrer Mutter tut, handelt sie bei Wilde aus eigenem Antrieb und aus enttäuschter sexueller Begierde.

Atom Egoyan ist nicht nur der heute erfolgreichste Regisseur der sogenannten Toronto New Wave, die in den 1980er Jahren anstrebte, im Gegensatz zu kanadischen Filmen, die Torontos Skyline als New York verkaufen, ein spezifisch anglokanadisches Independent-Kino aufzubauen. Er hat auch mehrere Opern inszeniert, darunter Strauss’ Salome. Während einer Neuaufnahme dieser Produktion 2023 hat er zugleich diesen Film gedreht, in dem Amanda Seyfried die Rolle der Regisseurin Jeanine übernimmt und an Hand der Inszenierungsmittel der Oper ein persönliches Trauma zu bearbeiten hat.

Seven Veils ist ein Film mit dichtem Figurengeflecht: Jeanines Vater war Operndarsteller und hat sie als Kind unter dem Deckmantel künstlerischer Arbeit missbraucht. Elemente dieses Missbrauchs fanden Einzug in die ursprüngliche Salome-Inszenierung eines Mannes namens Charles, mit dem Jeanine wiederum später eine Affäre hatte. Charles ist jetzt verstorben und sein letzter Wunsch war, dass Jeanine seine Inszenierung für die größte kanadische Operngesellschaft neuaufführe, was sie also zwingt, nicht nur das Chaos einer derart großen Bühnenproduktion und die Egos von Cast und Crew zu managen, sondern zugleich ihr wieder ins Bewusstsein dringendes Kindheitstrauma.

Weil Grenzüberschreitungen im Bühnenmetier leider keine Ausnahme sind, kommt es während der Produktion außerdem zu einem sexuellen Überbegriff des Johannes-Darstellers Johann (Opernsänger Michael Kupfer-Radecky) gegen die Requisiteurin Clea (Rebecca Liddiard), die wiederum mit der Zweitbesetzung für Salome zusammen ist. Und Jeanine selbst hat Interesse an der Zweitbesetzung für Johannes. Denn ihre Ehe hat sie gerade auf Grund ihrer berufsbedingten Abwesenheit geöffnet, woraufhin ihr Mann gleich begonnen hat, mit der Pflegerin ihrer Mutter zu schlafen, und die gemeinsame Tochter weiß von alledem nichts.

In diesem Film ist also ganz schön viel los. Seven Veils setzt sich mit Missbrauch und Machtgefällen im Theaterbetrieb auseinander sowie damit, wie man kanonische Geschichten von Sex und Gewalt neu erzählen kann. Von der „ersten Sexualstraftat der Bibelgeschichte“ spricht Jeanine einmal, während Clea, nachdem sie die Handlung für ein Behind-the-Scenes-Video in ihr Handy gesprochen hat, zusammenfasst: „Eine ziemlich verrückte Liebesgeschichte.“ Allerdings wirken die Änderungen, um die Jeanine mit der Intendanz kämpft, nicht politisch, sondern persönlich motiviert. Die Intimitätskoordinatorin kann sie nicht leiden, die auf Grund der Nacktheit und Sexualität in der Inszenierung per Vorschrift aufkreuzt – dabei scheint es ein offenes Geheimnis zu sein, dass Johann schon in der Vergangenheit gegenüber Kolleginnen übergriffig war. Und auch Jeanines eigenes Begehren eines niedriger gestellten Mitarbeiters ist nicht unproblematisch.

Egoyan macht die Sache unnötig kompliziert, in dem er seine traumatisierte Hauptfigur, mit der man gerne mitfühlen möchte, selbst so moralisch streitbar macht. Da hilft auch Amanda Seyfrieds überemotionaler Vortrag nicht, der beinah parodistisch wirkt, wenn sie die Darstellenden auf Grund ihres persönlichen Bezugs zur Produktion mit ständigen Unterbrechungen und ausladenden Regieanweisungen frustriert. Operndarstellende arbeiten mit großen Gesten – es handelt sich um eine hochstilisierte Kunstform. Seyfried dagegen könnte hier subtiler spielen. Auch mit der zweiten Figur, die einen Übergriff erfährt, geht Egoyan unnötig ambivalent um: Clea nutzt das Ereignis als Druckmittel gegenüber der Intendanz, um ihrer Freundin die Erstbesetzung zu verschaffen. Die Vorstellung, Missbrauchsopfer wollten Aufmerksamkeit oder Macht, findet sich oft genug in Kommentarspalten und muss nicht im Kino reproduziert werden.

Überzeugender ist, wie Egoyan einmal wieder mit großem Interesse Technologie einsetzt, im Film ebenso wie in seiner darin gezeigten Operninszenierung. Der Film ist voller Bildschirme: Per Tablet kommuniziert Jeanine in der Ferne mit ihrem Mann und ihrer Mutter oder sieht sich Charles’ ursprüngliche Salome-Produktion an, und ebenso wie Clea ist sie von der Intendanz angehalten, ihren Schaffensprozess per Videotagebuch zu dokumentieren. Ein derartiges Videotagebuch gibt es schon in Egoyans Debütfilm Die nächsten Angehörigen, und natürlich arbeiten viele zeitgenössische Theaterinszenierungen mit Videoleinwänden und schaffen so Verbindungen zwischen Bühnen- und Filmkunst. Es ist also glaubhaft, dass Johann als alter Opernsänger von der Regieanweisung, sich richtig vor der Kamera zu positionieren, genervt ist. Sein Job sei das Singen, nicht die Technik, sagt er im Film.

Es ist auch ziemlich schnell klar, dass Jeanines und Cleas viele Handyaufnahmen wohl nicht wirklich auf der Webseite des Theaters landen werden, so viele persönliche Enthüllungen, aber auch Anschuldigungen kommen darin vor. Durch Technologie verschwimmt nicht nur die Grenze zwischen Film und Theater, sondern auch zwischen privatem Leben und Öffentlichkeit, während für Jeanine die Grenze zwischen ihrer Familiengeschichte und dem Opernstoff eh längst verschwommen ist.

Die Figuren sind mitunter schwer nachvollziehbar. Nur so viel wird klar: Das Theaterhaus ist ein schlechtes Therapiezimmer. Durch die vielen Überschreitungen von Grenzen, ob menschlichen Grenzen in der Fiktion oder Grenzen zwischen den Kunstformen, wird Seven Veils aber zu einem Metatext. Vermutlich hatte auch Egoyan bei seiner ersten Salome-Inszenierung 1996 noch keine Vorstellung vom Nutzen einer Intimitätskoordinatorin. Im selben Jahr waren die Wachowskis mit ihrem Debütfilm Bound Vorreiterinnen und ließen die Sexszenen von der feministischen Aufklärerin Susie Bright choreographieren. 2023 hat es Egoyan dann hoffentlich schon anders gemacht.

Gesehen auf der Berlinale 2024.

Seven Veils (2023)

Theaterregisseurin Jeanine übernimmt die Wiederaufführung der bekanntesten Arbeit ihres ehemaligen Mentors und Liebhabers, eine Inszenierung der Oper „Salome“. Parallel zu den Proben, in denen sie sich mit dem Trauma der Titelfigur auseinandersetzt, muss Jeanine die Beziehungen in ihrem Privatleben neu sortieren. Gleichzeitig kreuzen sich auf unerwartete Weise ihre Wege mit denen einiger Sänger*innen und anderer Produktionsmitglieder. Während die Premiere immer näher rückt, kollidieren verschiedene Sehnsüchte und Ambitionen, und die Geschichte der Salome bekommt für Jeanine eine neue Bedeutung. (Quelle: Berlinale)

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