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In „Origin“ begleitet Ava DuVernay den Rechercheweg zur Entstehung einer These der Autorin Isabel Wilkerson.

Origin (2023)

Eine Filmkritik von Andreas Köhnemann

In der Geschichte

Die 1972 geborene Filmemacherin Ava DuVernay, die schon mit dem Martin-Luther-King-Biopic Selma (2014) ein starkes fiktionalisiertes Werk über den Kampf gegen Ungleichheit in den Vereinigten Staaten vorgelegt hatte, zeigte 2016 in ihrer dokumentarischen Arbeit „The 13th“ auf, wie Afroamerikaner:innen aus wirtschaftlichen Gründen von der Politik und den Medien kriminalisiert werden – und wie die Gefängnisindustrie auf dem Erbe der Sklaverei aufbaut. Nun hat sich DuVernay dem 2020 erschienenen Sachbuch Kaste der mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichneten US-Journalistin und -Autorin Isabel Wilkerson (Jahrgang 1961) gewidmet – und sich dabei wieder für die Form eines Spielfilms entschieden.

Origin ließe sich als Making-of-Fiktion über die Entstehung eines wissensorientierten Buchs beschreiben. Wir lernen Isabel, sehr einnehmend verkörpert von Aunjanue Ellis, in ihrem privaten Umfeld kennen. In wenigen Szenen wird ihre harmonische Ehe mit dem Mathematiker und Finanzanalysten Brett (Jon Bernthal) gezeigt; in Rückblenden erfahren wir später auch, wie die beiden sich einst kennenlernten. Obendrein wird der Konflikt etabliert, dass Isabel ihre verwitwete Mutter Ruby (Emily Yancy) in einem Altenheim unterbringen muss und sich deshalb schuldig fühlt.

Wir begleiten die Autorin zu Vorträgen und zu Abendveranstaltungen, wo sie von einem Kollegen (Blair Underwood) angesprochen wird, der sie dazu bewegen will, für sein Magazin einen Leitartikel über einen aktuellen Fall und dessen gesellschaftliche Bedeutung zu verfassen: Der junge Schwarze Trayvon Martin (Myles Frost) wurde nachts auf der Straße in einer durchweg weißen Nachbarschaft von einem Auto verfolgt und schließlich getötet. Isabel lehnt ab – dennoch lässt sie die Sache nicht los.

Im folgenden Jahr hat Isabel innerhalb kürzester Zeit mehrere Trauerfälle zu verarbeiten. Sie beginnt, für ein neues Buch zu recherchieren, das sie zu Forschungszwecken nach Deutschland und nach Indien führt. Sie begebe sich stets „inside the story“, meint Isabel an einer Stelle – und diese Vorgehensweise der Autorin wird von DuVernay stimmig ins Filmische übertragen, indem sie die Vergangenheit immer wieder lebendig werden lässt.

Wir sehen unter anderem, wie der Deutsche August Landmesser (Finn Wittrock) in der Nazi-Zeit der Jüdin Irma Eckler (Victoria Pedretti) begegnet und gegen das System aufbegehrt, oder wie das Schwarze Paar Allison Davis (Isha Blaaker) und Elizabeth Stubbs Davis (Jasmine Cephas-Jones) zur Zeit der Rassentrennung im Süden der USA bahnbrechende anthropologische Studien betreibt.

Origin fängt ein, wie Isabel allmählich ihre These entwickelt – wie sie etwa den Begriff des Rassismus als alleiniges Erklärungsmuster für Diskriminierung hinterfragt und den Aspekt der Kaste ins Spiel bringt, der zu einer Entmenschlichung und Stigmatisierung führe, in unterschiedlichen Ländern und zu unterschiedlichen Zeiten. Für die direkte Verbindung, die sie zwischen dem NS-Deutschland, den segregierten USA und Indien zieht, erhält Isabel von Kolleg:innen durchaus auch Kritik. Unabhängig davon, ob wir uns Isabels Gedankengängen gänzlich anschließen wollen, gelingt es DuVernay, eine komplexe Gesellschaftstheorie und deren Aufbau zu veranschaulichen und dabei den Menschen, der hinter diesem Entwurf steht, zu beleuchten.

Wenn Isabel mit der Ansicht ihrer Mutter konfrontiert wird, dass Schwarze nun einmal „einschüchternd“ auf die meisten Weißen wirken würden und sich deshalb entsprechend zu verhalten hätten, oder wenn sie sich bemüht, an die Empathie eines weißen Klempners mit roter „Make America Great Again“-Mütze zu appellieren, zeichnet DuVernay zudem ein spannungsreiches Bild der momentanen Stimmung in den USA, getragen von einer überragenden Hauptdarstellerin und einer rundum guten Besetzung.

Gesehen bei den Internationalen Filmfestspielen von Venedig.

Origin (2023)

Der Film handelt von der US-amerikanischen Gesellschaft, in der Rassismus durch ein Kastensystem systematisch gefördert wird.

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