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Lügen oder nicht lügen – das ist die große Frage im vielschichtigen Debüt des tschechischen Regisseurs Michal Blaško. Eine Putzfrau aus der Ukraine und ihr schwer verletzter Sohn geraten im tschechischen Exil unter den manipulativen Druck von allen Seiten.

Victim (2022)

Eine Filmkritik von Peter Gutting

Die üblichen Verdächtigen

Viele kennen das: Wenn irgendwo etwas beschädigt oder gar eine Person verletzt wird, geraten immer dieselben unter Verdacht. Minderheiten, Menschen nicht-weißer Hautfarbe, Außenseiter am Rande der Gesellschaft. Besonders schlimm wird diese Ungerechtigkeit, wenn sie auf falschen Annahmen basiert. Was dann passieren kann, beleuchtet der tschechische Regisseur Michal Blaško in seinem ersten Spielfilm. Sein stringent erzähltes Drama dreht sich aber nicht nur um Vorurteile, sondern auch um die Manipulation durch soziale Medien und die Fremdenfeindlichkeit überall in Europa. Vor allem schildert er einen ethischen Konflikt, ohne den moralischen Zeigefinger zu bemühen. Dass dabei eine Ukrainerin im Mittelpunkt steht, sollte nicht zu Verwirrungen führen, denn der Film wurde schon vor sieben Jahren konzipiert und nimmt keinerlei Bezug auf den russischen Angriffskrieg. 

Krankenhaus, Intensivstation: Der 13-jährige Igor (Gleb Kuchuk) dämmert mit Kopfverband vor sich hin. Er ist kaum wachzukriegen, kann nur flüstern. Trotzdem will ihn der Polizist Novotný (Igor Chmela) vernehmen. Er geht davon aus, dass der Junge, der schwer verletzt im Treppenhaus gefunden wurde, Opfer eines Überfalls geworden ist. „Waren es Weiße?“, fragt seine Mutter Irina (Vita Smachelyuk), die neben ihm sitzt und versucht, ihm beim Antworten zu helfen. Kaum merklich schüttelt der Junge den Kopf, mit geschlossenen Augen und sichtlich überanstrengt von der Zumutung, überhaupt sprechen zu müssen. 

Die kleine Geste führt zu einer Gewissheit, die für den Kommissar eh in der Luft lag: Drei Roma-Jungen aus demselben Block haben Igor krankenhausreif geschlagen. Damit kommt eine Lawine ins Rollen, die nicht mehr zu stoppen ist. Denn unterschiedliche Interessengruppen stürzen sich auf den Fall. Ein rechtsgerichteter Mann, der früher in Igors und Irinas Viertel wohnte und nun Stimmung gegen die dort lebenden Roma machen will. Das Fernsehen, das eine heiße Story wittert. Und eine Bürgermeisterin, die zwecks Stimmenfang öffentlich demonstrieren will, wie sie dem Opfer hilft. Als Igor, nunmehr bei klarem Verstand, seiner Mutter erzählt, dass er gestürzt sei, ist es für die Wahrheit fast zu spät.

Erzählt wird das alles aus der Perspektive der alleinerziehenden Mutter Irina, die in Tschechien selbst zu einer Minderheit zählt. Sie stammt aus der Ukraine und hatte den Sohn während des Unfalls unbeaufsichtigt zu Hause gelassen. Denn sie musste in der Heimat Dokumente besorgen, um die tschechische Staatsangehörigkeit zu beantragen. Ohne die Einbürgerung würden Mutter und Sohn demnächst ausgewiesen. Irina hat Stress mit der über ihr wohnenden Roma-Familie, aber das ist ein normaler Nachbarschaftsstreit. Ansonsten lernen wir die als Putzfrau arbeitende Immigrantin als sachliche, vernünftige Person kennen. Sie ist eine einfache, oft hilfsbereite und würdevolle Frau, ganz ähnlich den Charakteren der Dardenne-Brüder. So funktioniert auch der Film: als leise, konzentrierte Sozialstudie mit dokumentarischem Kamerastil, die bisweilen Anleihen beim Thriller nimmt.

Soll nun diese Frau, die plötzlich von vielen Seiten hofiert wird (auch finanziell) und ihrem Traum von einem besseren Leben und einem eigenen Frisiersalon ganz nahe kommt, die Wahrheit sagen, alles wieder verlieren und den Zorn der sie bedrängenden Unterstützer auf sich ziehen? Das ist die große Frage, die Regisseur Michal Blaško und Drehbuchautor Jakub Medvecký dem Publikum stellen – und ihm eine schnelle Antwort so schwer wie möglich machen. Sie stellen sich damit in eine Tradition des ethisch fundierten Kinos, das viele starke Werke hervorbrachte, aber nie besonders massentauglich war. Man denke an Arbeiten von Robert Bresson, Krzysztof Kieślowski oder auch an Cristian Mungiu, dessen 4 Monate, 3 Wochen und 2 Tage (2007) die Ästhetik von Victim inspiriert hat.

Auch wenn Michal Blaško nicht alle Erzählfäden in altmeisterlicher Perfektion verwebt, so fasziniert doch allein der Versuch, ein Phänomen wie das Lügen samt seinen Folgen in aller Plastizität auf die Leinwand zu bannen. Ganz zu schweigen von der sehenswerten Leistung der Hauptdarstellerin Vita Smachelyuk. Sie trägt diesen Film nicht als Leidensmadonna, sondern mit einer bewundernswerten Zurückhaltung, in der sich der ganze innere Stress und die moralische Zerrissenheit umso eindringlicher spiegeln. Mit Blick auf Irinas soziale Lage könnte man nach Bertolt Brecht sagen: „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.“ Aber so einfach machen es sich der Film und seine Hauptdarstellerin nicht.

Victim (2022)

Als der Sohn der ukrainischen Immigrantin Irina angegriffen wird, erhebt sich die gesamte Stadt in Solidarität zu dem Opfer und bezieht Stellung gegen die Roma, die des Übergriffs bezichtigt werden. Doch bald schon zeigt sich, dass sich hinter der Tat eine ganz andere Wahrheit verbirgt.

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Meinungen

Mark S · 17.10.2023

Der Film ging in meine Richtung, wenn man so eine Vermutung formulieren möchte, was der Film aussagen wollte.
Aber durch diesen streifen wird das Phänomen VORURTEIL nicht aus der Welt geschaffen, wenn es denn überhaupt als ein solches bezeichnet werden kann...
Da Fällt mir Mahatma GHANDI ein: Vorurteile sind eine Schwäche.
Und Rassismus gibt es sowieso heute zur Genüge...
Allerdings war es mir nicht möglich, das Ende zu sehen - trotzdem eine gute Zeit, diesen Streifen sehen zu können.
Beste Grüße,