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Mit „Guillermo Del Toros Pinocchio“ präsentiert uns der mexikanische Filmemacher seine Sicht auf die Erlebnisse der lebendigen Holzpuppe.

Guillermo del Toros Pinocchio (2022)

Eine Filmkritik von Andreas Köhnemann

Ein vermeintliches Monster

Die Holzfigur Pinocchio ist eine Erfindung des italienischen Autors Carlo Collodi. Bekannt wurde sie Anfang der 1880er Jahre durch kleine Fortsetzungsgeschichten in einer Wochenzeitung. Später wurde daraus ein Buch – und alsbald folgten diverse Adaptionen. Zu den populärsten dürfte der Disney-Animationsfilm aus dem Jahre 1940 gehören, der unter der Regie von Robert Zemeckis kürzlich ein Live-Action-Remake mit Tom Hanks in der Rolle des Holzschnitzers Geppetto bekam.

Nun folgt, zunächst in ausgewählten Kinos und ab dem 09. Dezember auf Netflix, mit Guillermo Del Toros Pinocchio ein weiteres Animationsabenteuer um die Holzpuppe und deren Ziehvater. Wie der Titel jedoch schon verdeutlicht, trägt das Werk ganz klar die Handschrift des mexikanischen Filmemachers Guillermo Del Toro (Jahrgang 1964), der sich im Laufe seiner Karriere als Virtuose auf dem Gebiet der Fantastik erwiesen hat. So lieferte der Regisseur etwa atmosphärische Horrorkost wie The Devil’s Backbone (2001), Fantasy-Action wie Hell Boy (2004), poetisch-politische Parabeln wie Pans Labyrinth (2006) und Shape of Water – Das Flüstern des Wassers (2017) sowie zuletzt die Film-noir-Hommage Nightmare Alley (2021). Dass seine Interpretation des Pinocchio-Stoffes wesentlich düsterer als die Disney-Version ausfällt, dürfe wohl kaum überraschen.

Tatsächlich beginnt der Film auf eine äußerst traurige Art und Weise: Der in bescheidenen Verhältnissen lebende Meister Geppetto (der in der Vorlage und auch bei Disney kinderlos ist) hat seinen zehnjährigen Sohn Carlo durch die Zerstörungen des Krieges verloren. Die Haupthandlung ist im faschistischen Italien der 1930er Jahre angesiedelt. In einem warmen Licht erhalten wir in einer Rückblende einen kurzen Einblick in die gemeinsame Zeit – wie der Vater dem Kind Gutenachtgeschichten vorgelesen und Lieder vorgesungen hat, in denen das Motiv der wachsenden Nase beim Erzählen von Lügen bereits etabliert wird. Als Geppetto nach vielen Jahren der Trauer im Zorn den Kiefernbaum neben Carlos Grab fällt, schnitzt er aus dem Holz eine Marionette in der Form eines Jungen – als offensichtlichen Ersatz für seinen toten Sohn.

Ein Waldgeist bewirkt, dass die Holzfigur zum Leben erwacht. Rasch richtet Pinocchio allerhand Chaos an und sorgt in der kleinen Gemeinde für Entsetzen, wird dort gar als „Dämon“, „Monster“ und „Ungetüm“ bezeichnet. In der Zeichnung des gesellschaftlich-politischen Umfeldes beweist Del Toro sein feines Gespür. Pinocchio und auch sein Ziehvater sind Außenseiter; zu einer der Bedrohungen des Films gehört der strenge Mussolini-Anhänger Podesta, der sowohl seinen eigenen Sohn als auch den arglosen Holzjungen zu Soldaten machen will. Während Schurken in animierten Werken häufig lächerlich-überspitzt dargestellt werden, ist Podesta (im Original mit der Stimme von Ron Perlman) eine sehr real erscheinende Gefahr. Und auch der deutlich exzentrischere Kirmesbetreiber Graf Volpe (gesprochen von Christoph Waltz) ist durchaus keine Witzfigur, sondern steht für Ausbeutung und Betrug.

Die Stop-Motion-Technik setzt Del Toro gekonnt ein, um einen in sich völlig stimmigen Kosmos zu schaffen. Die fantastischen Elemente – etwa wenn Pinocchio wiederholt in eine jenseitige Welt gerät, in der Hasen Karten spielen und eine Fee den Lauf der Zeit bewacht – werden überzeugend mit dem historischen Hintergrund verbunden. Die als Erzähler fungierende Grille Sebastian J. Crickett passt hier ebenso in das Geschehen wie das Seemonster, in dessen Inneren sich das Finale der Reise zuträgt. Wie schon das als Entwicklungsroman angelegte Buch von Collodi hat Guillermo Del Toros Pinocchio eine eher episodenhafte Struktur, die aber nie zerfasert. Letztlich geht es weniger darum, dass der Titelheld eine Lektion lernt und dadurch zum „richtigen“ Jungen wird – sondern dass er sich seine Unangepasstheit bewahrt, dass er die Dinge, die um ihn herum geschehen, hinterfragt und sich dabei auch für andere Unterdrückte einsetzt.

Guillermo del Toros Pinocchio (2022)

Guillermo del Toro erzählt in seinem Stop-Motion-Abenteuermusical seine Version des italienischen Klassikers. In neuen Bildern dürfen wir Pinocchio auf seiner abenteuerlichen Reise begleiten, ein Junge zu werden.

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