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In einem kleinen Städtchen in der Einöde Kanadas stirbt ein junger Mann bei einem Unfall unter ungeklärten Umständen. Die Gemeinde versucht mit dem Schock umzugehen — bis der junge Mann plötzlich leibhaftig manchen der Bewohnern erscheint. Und er ist nicht allein … 

Ghost Town Anthology (2019)

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

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Geisterstädte werden sie jetzt schon genannt. Viele Kleinstädte und Dörfer in Quebec sind von Landflucht betroffen, die Gemeinden überaltern, sterben aus, die Jungen ziehen weg, zurück bleiben die Alten. Und mit ihnen verfallende Häuser, leere Fabriken, aufgelassene Minen — und all die Erinnerungen an die Leben, die hier einst stattfanden. Denis Côtés Ghost Town Anthology erzählt in gewohnt sperriger Weise von diesem Phänomen anhand des Weilers Irénéé-les-Neiges, in dem sich ein Unglück ereignet, das Folgen hat. Doch er fügt seinem Drama Genre-Elemente hinzu, die für einige Überraschungen sorgen und die der Geschichte einer Trauerarbeit einige unerwartete Wendungen geben.

Gleich zu Beginn sehen wir leere Höfen, zurückgelassene Baumaschinen, eine verlassene Landstraße. Dann das Geräusch eines hochtourig gefahrenen Wagens, der sich offensichtlich mit hoher Geschwindigkeit nähert. Als das Auto dann ins Bild kommt, verreißt der Fahrer das Steuer und lenkt sein Gefährt zielsicher in einige Betonteile, die achtlos am Wegesrand abgestellt wurden. Kinder mit seltsamen Masken vor den Gesichtern nähern sich dem Unglücksort und spähen in den Wagen hinein, dessen Fahrer den verheerenden Aufprall wohl kaum überlebt haben kann.

Dies ist der furiose Auftakt zu Ghost Town Anthology. Danach lernen wir einige Bewohner des Ortes kennen: Jimmy (Robert Naylor), den älteren Bruder des gerade Verunglückten — oder soll man die Dinge nicht lieber doch beim Namen nennen und feststellen, dass Simon mit ziemlicher Sicherheit Selbstmord begangen hat? Doch statt sich den Fakten und all dem Unerklärlichen dahinter wirklich zu stellen, schweigt die Gemeinde lieber, beschwört Gemeinschaftssinn herauf und lehnt jede Hilfe von außen ab. Die Bürgermeisterin des Ortes, Simone Smallwood (Diane Lavallée), schickt eine Psychologin, die das kollektive Trauma aufarbeiten will, gleich wieder weg und besteht drauf, dass man es hier gewohnt sei, die Dinge selbst zu regeln. Doch schon die ersten Gespräche, die man belauscht, zeigen deutlich, dass genau das nicht möglich ist. 

Und dann sind da plötzlich die „Gestalten“: Menschen, die urplötzlich überall auftauchen, nur stumm dastehen und die Bewohner bei ihrem Tun betrachten. Adèle (Larissa Corriveau), die von der Stütze lebt, ist eine der ersten, die sie sieht. Dann erscheinen sie auch den anderen. Und plötzlich befindet sich auch der verstorbene Simon, dessen Gebeine wegen des Frostes in einem Sarg im Schuppen liegen, unter den Geistern in der kommenden Geisterstadt. Wie eine Epidemie breiten sich die Meldungen über ähnliche Erscheinungen im ganzen Land aus — nur die Städte bleiben von der Rückkehr der Toten verschont.

Gedreht auf rau anmutenden Super16-Material erschafft Denis Côté zusammen mit seinem Kameramann François Messier-Rheault und einem scharfkantigen Soundtrack eine Art schroffe Genrevariation auf Atom Egoyans Sweet Hereafter, der ebenfalls von einem schrecklichen Unfall und dessen Auswirkungen auf eine kleine ländliche Gemeinde erzählt. Wobei zugleich der Unterschied nicht größer sein könnte: Während Egoyan in elegischen Kamerafahrten schwebte, ist Ghost Town Anthology aus einem ganz anderen, härteren Holz geschnitzt. Die Kälte scheint überall fühlbar, die Verzweiflung über das drohende Aussterben eines Ortes, der dem Tode geweiht ist, dringt aus jeder Pore dieses Films, spiegelt sich in den verlassenen Gebäuden wider und infiziert schließlich auch das Publikum, das unmerklich förmlich in diese Atmosphäre hineingesogen wird, bis es kein Entrinnen mehr gibt.

Der einzige Hoffnungsschimmer geht indes am Ende ausgerechnet von Adèle aus, deren verschrecktes Wesen und sinnloses Geplapper zu Beginn mehr als nur nervte: Während Jimmy und seine Mutter schließlich den Ort verlassen, um in die Stadt zu gehen und dort Ruhe zu finden, schwebt sie ganz buchstäblich über den Dingen, hängt in der Luft, hat den Boden unter den Füßen verloren und scheint doch (oder gerade deswegen) endlich glücklich.

Ghost Town Anthology (2019)

In einem kleinen, abgelegenen Weiler mit 215 Einwohnern stirbt ein Mann bei einem Autounfall. Nur widerwillig sind die Dorfbewohner bereit, sich mit den Umständen der Tragödie auseinanderzusetzen. Von diesem Moment an scheint die Zeit ihre Bedeutung zu verlieren.

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