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Über drei Jahrzehnte und 175 Minuten Laufzeit erstreckt sich Wang Xiaoshuais epischer Film über zwei Familien und ein tragisches Unglück, das deren Leben erheblich beeinflusst und prägt. Ein Kunststück, das dem Regisseur meisterlich gelungen ist.

Bis dann, mein Sohn (2019)

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Verlorene Söhne, verlorene Eltern

Am Anfang steht ein verhängnisvolles Unglück: Zwei befreundete Jungen sind mit Freunden am Ufer eines Staudamms. Der mutigere Liu Xing hänselt den ängstlicheren Shen Hao, weil er nicht mit ans Wasser kommen will, obwohl es dort am Ufer seicht sein soll. Johlend rennt Xing davon. Wenig später, so suggeriert es der Schnitt, treibt Hao leblos im Wasser, seine eilig herbeigerufenen Eltern schleppen den Körper ihres Sohnes zwar noch ins Krankenhaus, doch für das Kind kommt jede Hilfe zu spät.

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Auch wenn das Publikum erst ganz spät erfährt, was an diesem Tag im Jahre 1994 wirklich geschehen ist, so ist doch von diesem Anfang an klar, dass der Tod des Jungen ein Unglück ist, das das Leben aller Beteiligten und Betroffenen grundlegend prägen wird. In Zeitsprüngen und Ellipsen nähert sich der Film der ganzen Tragik der beiden Paare an, die mit der Last der Vergangenheit leben müssen und deren Lebenswege auseinandertreiben: Liu Yaojun und Wang Liyun, die Eltern des gestorbenen Jungen, werden die Stadt verlassen, mehrmals umziehen und einen Jungen adoptieren, dem sie den Namen Liu Xing geben. Doch nicht nur deswegen oder aufgrund der Tatsache, dass der angenommene Junge gegen die Last seines Daseins als bloßer Ersatz rebelliert und seine Adoptiveltern im Streit verlässt, kommen sie niemals über den Verlust hinweg. Aber auch Shen Yingming und Li Haiyan, die Eltern Haos, müssen mit dem Vorfall leben. Zumal sie um ein Geheimnis wissen, das sie den befreundeten Eltern um jeden Preis verbergen wollen. Doch irgendwann wird das Geheimnis ans Licht kommen und die beiden Paare wieder zusammenführen. Und zwischendrin werden sich weitere Dinge ereignen, die die schicksalhafte Verstrickung der Protagonisten und derer, die ihnen nahestehen, noch weiter verkomplizieren. 

Zugegeben: Wer am Anfang nicht genau aufgepasst und zugleich an manchen Stellen kein Ohr für chinesische Namen hat, der kann in dieser komplexen und mit vielen Rückblenden und Zeitsprüngen gespickten Geschichte schnell mal den Überblick verlieren. Während dies bei anderen Filmen aber gerne mal zum Abschalten und damit zum Ausstieg aus der Story führt, gelingt es Wang Xiaoshuai, sein Publikum meisterlich durch alle Wendungen und Entwicklungen zu tragen und nebenbei noch Phasen und Epochen der jüngsten chinesischen Zeitgeschichte als Hintergrund einzuflechten: die Kulturrevolution, Chinas Ein-Kind-Politik, die Zeit der wirtschaftlichen Reformen und die modernen Ausformungen des Spagats zwischen Kommunismus und Kapitalismus. Dies gelingt ihm vor allem durch die wundervollen Bilder, die der Kameramann Kim Hyun-seok auf die Leinwand malt. Immer wieder scheint die Kamera förmlich zu schweben, taucht sie die Protagonisten selbst in Momenten der größten Verzweiflung und existenziellsten Not in warmes Licht, lässt diese Menschen leuchten, erhebt ihr Leben aus all der Mühsal des irdischen Lebens hinaus und macht sie zu (gleichwohl tragischen) Helden, denen man alles verzeiht und mit denen man bangt, trauert, lebt. Hinzu kommt ein feiner Score, der seine prägnanten Leitmotive immer wieder auf gekonnte Weise einflicht, sich ansonsten aber überwiegend in Zurückhaltung übt und den Bildern, den wundervollen Darstellern und der kunstvoll gebauten Geschichten ihren Raum lässt.

Eine große humanistische Fabel und ein Gesellschaftsporträt Chinas, kondensiert und komprimiert im tragischen Schicksal zweier Familien.  Ein Meisterwerk, dem man jeden Filmpreis auf der Welt wünscht – und sei es nur deswegen, damit dieser Film in die deutschen Kinos kommt.

Bis dann, mein Sohn (2019)

„So long, My Son“ erzählt von zwei Paaren und verfolgt deren Leben von der Zeit der Wirtschaftsreformen in China bis in die Gegenwart unserer Tage.

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Meinungen

Erich Fischer · 22.09.2022

Zitat: "Wer am Anfang nicht genau aufgepasst und zugleich an manchen Stellen kein Ohr für chinesische Namen hat, der kann in dieser komplexen und mit vielen Rückblenden und Zeitsprüngen gespickten Geschichte schnell mal den Überblick verlieren". Wie wahr, denn genau das ist dem Kritiker von Kino-Zeit passiert, denn nicht Hao sondern Xing ertrinkt!

Wann werden die Filmemacher endlich kapieren, dass sie, die das Drehbuch von Anfang bis Ende gelesen oder sogar geschrieben haben, beim nicht-chronologischen Durcheinanderwürfeln der Zeitebenen weitaus leichter den Überblick bewahren können als die überrumpelten Zuschauer ohne jedwede Vorkenntnisse. Extra arg wird es, wenn wie in "Bis dann, mein Sohn" trotz der abgehandelten gigantischen Zeitspanne auf informative Zwischentexte wie "Sechs Jahre zuvor", "Vier Jahre danach", "Heute" oder "Vor zwölf Stunden" verzichtet wird und die häufigen jähen Zeitsprünge nichteinmal durch Kleidermoden, Frisuren oder sonst was identifizierbar sind. Bei diesem Film ist das Chaos besonders rücksichtslos, er beginnt ohne jede Einführung in die Familienverhältnisse mit einem ertrunkenen Kind, setzt dann mit einer Jahre zuvor stattgefundenen Schwangerschaft und Abtreibung fort usw. und so fort. Ich hatte vor dem Film keine Zeit, mir eine detaillierte Inhaltsangabe zu suchen, und habe mich daher erst am Schluss mit einigem Grübeln ausgekannt, müsste mir dieses durch die tragischen Einzelschicksale zweier Familien gezeichnete monumentale Gesellschafts- und Geschichtsporträt über 40 Jahre China also ein zweites Mal ansehen, um dieses zweifellos großartige Werk jetzt ohne Verwirrung gebührend auf mich einwirken lassen zu können. Bei einer Filmlänge von 180 Minuten ist das etwas viel verlangt...

Wofür soll so ein intransparentes Schnittgewitter gut sein? Das ist doch mehr Künstlichkeit als Kunst!

Mirko · 24.11.2019

Da hat wohl auch der Kritiker den Überblick über die chinesischen Namen verloren. Der im Stausee verunglückte Junge war Xing. Aber da geht es wohl vielen Zuschauern ähnlich, die gesamte Geschichte ist auch bei mir nicht vollständig angekommen. Für mich die Schwäche des Films: Trotz drastischer Überlänge findet der Regisseur keine Zeit, wenigstens die offensichtlichen Fragen zu beantworten. Pluspunkte sind die vielen Szenen, die die verschiedenen Epochen der extern wechselvollen Geschichte Chinas in differenzierter und nicht plakativer Weise zeigen. 2 Stunden hätten für mich auch ausgereicht.

Yves · 05.10.2022

Danke für den Hinweis mit dem Fauxpas ganz am Anfang des Artikels, wollte eben etwas schreiben.
Fand den Film super aber musste ihn 3 Mal anschauen um alle Details mitzukriegen.
In unserer heutigen Zeit sicher keine Selbstverständlichkeit. Aber es hat sich gelohnt.
Viel erinnert mich auch an meine eigene Jugend in der DDR aber natürlich nicht in der Intensität.
Die Darsteller sind absolut grossartig und die Storyführung etwas langatmig aber die Geschichte trohnt über dem ganzen als vereinigendes Element.
Nach dem 4. Angucken wird klar das man wenig wegschneiden kann um den Gesamteindruck nicht zu verwischen. Ich bin froh das es eine dt. Synchro gibt.