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Bis heute lagern Zehntausende von Gebeinen aus den ehemaligen Kolonien in deutschen Museen. In „Das leere Grab“ erforschen Agnes Lisa Wegner und Cece Mlay den schwierigen Kampf von Nachfahren, sie zurückzubekommen – und enthüllen nebenbei ein finsteres Kapitel der deutschen Geschichte.

Das leere Grab (2024)

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Leichen im Keller der Geschichte

Nicht allein wegen des Goldenen Bären für Mati Diops Restitutionsrecherche „Dahomey stand die Berlinale 2024 im Zeichen von Fragen nach historischer Schuld und darum, ob und auf welche Weise sich Missetaten und Verbrechen aus früherer Zeit sich wiedergutmachen lassen und was es dazu bedarf. Während aber Diops Film von der Heimkehr von Artefakten aus dem untergegangen Königreich Dahomey im heutigen Benin handelt, geht „Das leere Grab“ von Agnes Lisa Wegner und Cece Mlay noch einmal mehr unter die Haut. Die Spurensuche der beiden Filmemacherinnen aus Mannheim und Daress Salam erforscht nicht den Verbleib von Kunstgegenständen, sondern von Hinterlassenschaften ganz anderer, grausigerer Art: Es handelt sich dabei um die Gebeine und vor allem um die Schädel, deren Verlust für die Nachkommen der Verschwundenen bis heute ein kollektives Trauma darstellt, das von Generation zu Generation weitergegeben wird.

115 Jahre ist es her, dass Songea Mbano während des sogenannten Majimaji-Krieges (1905 bis 1907) getötet wurde. Wie viele andere seiner Landsleute wurde sein Schädel nach seinem Tod für Forschungszwecke im Dienst einer zutiefst rassistischen (Pseudo-)Wissenschaft, der „Phrenologie“, nach Berlin gebracht. Dort lagern heute noch Zehntausende menschlicher Überreste, die trotz akribischer (typisch deutsch eben) Katalogisierung und Erfassung kaum mehr zuzuordnen sind. Für die Nachkommen der Verschwundenen bedeutet dies auch nach langer Zeit noch unendliches Leid, das erst dadurch gelindert werden kann, wenn die Gebeine der ermordeten Vorfahren wieder in ihre Heimat zurückgeführt und dort bestattet werden können. 

Gleich zu Beginn wird die Kamera Zeuge, wie sich die Nachfahren von Songa Mbano an dessen leerem Grab versammeln, später wird sein Urenkel John Makarius Mbano von seinen Verwandten den Auftrag erhalten, die Gebeine Songas endlich nach Hause zu holen. Eine große Bürde für den jungen Mann, denn er ist nicht der erste, dem diese Verpflichtung obliegt, doch mit Hilfe seiner Frau Cesilia und einer ersten Spur, die nach Deutschland führt, könnte es dieses Mal klappen.

Agnes Lisa Wegners und Cece Mlays Ansatz verfolgt die Spurensuche in zwei Ländern auf zwei Kontinenten. Anders, als dies vielleicht aufgrund finanzieller und logistischer Beschränkungen zu erwarten gewesen wäre, verhält es sich keineswegs so, dass Wegner ausschließlich die Aufnahmen in Deutschland und Mlay ausschließlich jene in Tansania zu verantworten hatte. Vielmehr entstand rund 90 Prozent des Materials in gemeinsamer und tatsächlicher Zusammenarbeit sowohl in Deutschland wie auch in Tansania, weil es auch im Sinne der Geschichte unerlässlich war, dass hier nicht eine deutsche Filmcrew eine Geschichte und ein nationales Trauma „abgreift“, sondern wirklich versteht, worum es hier geht. Und so fügen sich die Szenen aus Tansania, die von profunden Kenntnis der Kultur, aber auch von Respekt und Empathie mit den trauernden Angehörigen und Nachfahren Songa Mbanos geprägt sind, nahtlos zusammen mit den Recherchen in Archiven und Gespräche mit Expert*innen und Aktivist*innen wie Mnyaka  Sururu Mboro. Dass die beeindruckende und wichtige Aufarbeitung trotz dieser beiden geographischen Pole und der deutlichen Unterschiede in der Tonalität wie aus einem Guss erscheint, ist auch der sehr präsenten Filmmusik von Hannah von Hübbenet und dem umsichtigen Schnitt von Donni Schoenemond zu verdanken. 

Es wäre zu wünschen, dass dieser Film nicht nur im Kino sein Publikum finden, sondern auch an den Schulen Einzug halten könnte. Die Aufklärungsarbeit und das Verständnis, warum das Anliegen von Menschen wie John Makarius Mbano ernst genommen werden muss, sind jetzt und in Zukunft von großer Bedeutung. Und zwar durchaus auch hinsichtlich der Frage, ob wir als (hoffentlich) geschichtsbewusstes Land weiterhin an Straßennamen festhalten wollen, deren Namenspatrone unendlich viel Leid über Menschen gebracht haben, die sie allenfalls als Versuchsobjekte im Dienste ihrer eigen kolonialistischen und rassistischen Ideologie ansahen. Im Dienst des Kaisers und der sogenannten „Wissenschaft“.

Gesehen bei der Berlinale 2024.

Das leere Grab (2024)

Bis heute lagern zehntausende menschliche Überreste aus ehemaligen Kolonien in deutschen Museen. Bis heute ist unklar, wie sie identifiziert und zurückgeführt werden können. „Das leere Grab“ folgt zwei Familien auf ihrer mühsamen Suche nach den Gebeinen ihrer Vorfahren: Im Süden Tansanias begibt sich der junge Anwalt John Mbano mit seiner Frau Cesilia auf die Spuren seines Urgroßvaters, der vor über 100 Jahren von der deutschen Kolonialarmee hingerichtet wurde. Der Schädel seines Ahnen wurde damals zu rassistischen „Forschungszwecken“ nach Deutschland gebracht; die Familie wird bis heute von diesem Schmerz heimgesucht. Ähnlich geht es Felix und Ernest Kaaya: Im Norden Tansanias kämpfen sie um die Rückführung der Gebeine ihres Vorfahren und begeben sich dafür in die Metropole Dar es Salaam. Beide Familien kämpfen mit dem Dickicht deutscher und tansanischer Bürokratie, erhalten aber auch Unterstützung von Aktivisten wie Mnyaka Sururu Mboro und Konradin Kunze, die in Deutschland Sichtbarkeit für das Thema schaffen. Mit deren Hilfe werden die Mbanos schließlich im Auswärtigen Amt in Berlin empfangen, und dann kommt sogar Bundespräsident Steinmeier in ihre Heimatstadt, um sich für das zugefügte Leid zu entschuldigen. Das Grab jedoch ist immer noch leer. (Quelle: Salzgeber)

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