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Das erste Jahr der Corona-Pandemie lässt sich nun auch in einem Dokumentarfilm reflektieren, der an zwölf verschiedenen Orten auf der Welt gedreht wurde. Im Zentrum stehen einzelne Personen und Familien, die jäh auf sich selbst zurückgeworfen sind und sich neuen Halt zu geben versuchen.

Die Welt jenseits der Stille (2021)

Eine Filmkritik von Bianka Piringer

Das Inseldasein in der Pandemie

Was verbindet den Pizzalieferanten Jorge in New York und den Telefonisten Rollen in Kuala Lumpur? Wenn Jorge die Pizzen mit dem Fahrrad transportiert, gehört ihm die Straße fast allein. Rollen benutzt die öffentlichen Verkehrsmittel auf dem Weg zur Arbeit. Der Mann mit dem Blindenstock fragt sich manchmal, ob er als einziger draußen unterwegs ist, und staunt: „Ich kann die Vögel hören.“ Der Dokumentarfilm „Die Welt jenseits der Stille“ ist 2020, im ersten Jahr der Corona-Pandemie, gedreht worden. Er zeigt, wie Menschen an zwölf verschiedenen Orten in der Welt mit der noch neuen Krise umgehen, wie sie ihr Leben anpassen, die Angst, die Ausgangsbeschränkungen und die Isolation bewältigen. 

Alle Phänomene, die ihrer Zeit einen Stempel aufdrücken, werden früher oder später vom Medium Film aufgegriffen. Es war natürlich abzusehen, dass ein so gewaltiges Ereignis wie die Corona-Pandemie auch schnell Eingang ins Dokumentarfilmgenre findet. Dort tritt es jedoch derzeit noch in Konkurrenz mit den täglichen Fernsehnachrichten und Sondersendungen zur Corona-Lage. Wer sowieso schon im realen Alltag unter der Pandemie und ihren Folgen ächzt, möchte sich vielleicht nicht auch noch einen abendfüllenden Film dazu anschauen. Dieses Werk des Regisseurs Manuel Fenn (Co-Regie Parchim International) überrascht jedoch als emotional gut verträglich. Es verzichtet auf Bilder von Siechtum und Verzweiflung, dokumentiert nicht die Überlastung von Krankenhäusern. Zwölf Filmteams haben in Iran, Brasilien, Bolivien, Malaysia, Israel, in Moskau, London, New York, Nairobi, Rom und Berlin beobachtet, wie sich Einzelpersonen, Familien oder Gruppen auf die neue Situation einstellen. Beim Zusehen entsteht ein verbindendes Gefühl, viele Geschichten berühren, stimmen sogar zuversichtlich und optimistisch. 

Diese insgesamt positive Betrachtungsweise mag durchaus eine filmische Zielvorgabe gewesen sein. Auch stilistisch haben die einzelnen Episoden, die im bunten Wechsel kurzweiliger Häppchen von wenigen Minuten serviert werden, Gemeinsamkeiten. In der Regel nennt ein kurzer Text die Namen der Protagonist*innen und ihre Lebenssituation, bevor sie selbst zu erzählen beginnen. Die polnische Altenpflegerin Sofia sitzt auf dem Balkon einer Blockwohnung in Rom und raucht. Die Frau, die hier lebte, ist vor kurzem gestorben, aber Sofia darf wegen Reisebeschränkungen nicht heimfahren. Sie schaut fern, isst allein, betet, telefoniert. Penibel achtet sie auf Hygiene, wenn sie vom Einkaufen heimkommt. Sie wirkt trotz ihrer Isolation gefasst und hat auch ihren Humor nicht eingebüßt. 

Das Abgeschnittensein von Familie und Freunden, die Tage in ungewohnter Einsamkeit sind auch für andere Porträtierte eine Herausforderung. Der junge Chinese Chenyun lebt als Kung-Fu-Trainer in Berlin. Er habe keine Freunde in der Stadt, sagt er und führt das auf seine Schüchternheit zurück. Seine Kontakte beschränkten sich auf das Sporttraining, doch die Halle muss für eine Weile schließen. Den Telefonaten mit der Mutter, dem Großvater in China kommt nun noch größere Bedeutung in seinem Leben zu. Auch Chenyun wirkt in dieser Ausnahmesituation sehr diszipliniert. Wenn er das Haus verlässt, trägt er einen zweilagigen Mund-Nasen-Schutz, und das zu einem Zeitpunkt, als das in Deutschland noch nicht verlangt ist. Er versteht nicht, warum die Deutschen das nicht auch so machen. 

In Rio de Janeiro verteilt Saullo kostenlose Masken an Bewohner einer Favela. Er arbeitet in der einzigen Klinik des Armenviertels und betreibt Gesundheitsvorsorge und Aufklärung. Am meisten zu schaffen macht Saullo die vorübergehende Trennung von seinem Lebensgefährten, der aus Angst vor einer Infektion die gemeinsame Wohnung verlassen hat. In Bolivien haben Carmen und Julio gerade das gegenteilige Problem: Die Eltern zweier Kinder standen vor der Trennung, nun zwingt die Pandemie sie zurück ins intensive Familienleben daheim. 

Der indigene Stamm der Kuikuro verfolgt in seinem brasilianischen Dorf die Nachrichten im Fernsehen mit großer Sorge. Noch ist niemand im Dorf infiziert, doch es wird rasch ein Haus gebaut, das als Isolierstation für Erkrankte dienen soll. Tatsächlich findet die Pandemie ihren Weg auch an diesen entlegenen Ort. Nicht alle Geschichten entwickeln sich so dramatisch wie in dieser Episode oder gewinnen im Verlauf an Substanz. Oft bleiben die Porträts Momentaufnahmen, flüchtig und mit begrenztem Informationsgehalt. 

Dennoch bilden all diese Geschichten und Eindrücke ein überwiegend gelungenes Zeitdokument, dessen Bedeutung sich wahrscheinlich in der Zukunft noch besser erkennen lassen wird. Die Episoden erinnern daran, wie herausfordernd das Gefühl des Eingesperrtseins, das Erleben der Vereinzelung und der diffusen, allgegenwärtigen Gefahr für so viele Menschen gerade in der ersten Phase der Pandemie gewesen ist. Die Porträtierten erfahren, wie fragil ihre Lebenswege und -pläne sind, und entwickeln in der Ungewissheit neue Kräfte. Von den vielen Bildern leerer Straßen in den großen Metropolen der Welt wird im Übrigen wohl für alle Zeiten eine eigentümliche Faszination ausgehen. 

Die Welt jenseits der Stille (2021)

Auf einmal steht die Welt still. Auf allen Kontinenten finden sich die Menschen in einem Lockdown wieder. Die Welt, wie wir sie kennen, ist Vergangenheit. Was kommen wird, ist ungewiss. Die Auswirkungen eines unsichtbaren Virus fordert die Gesellschaften heraus. Die Menschen sind auf sich selbst zurückgeworfen.

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