Log Line

Damit das Band läuft, müssen Autoteile her. Damit Autoteile geliefert werden, müssen Logistikmanager her. „Automotive“ porträtiert die Hilfskraft eines Audi-Sublogistikers, und eine Headhunterin fürs gehobene Management – und spricht nebenbei über Zukunft, Politik, Gesellschaft.

Automotive (2020)

Eine Filmkritik von Harald Mühlbeyer

Logistik – und dann?

Der Schreiber dieser Zeilen hat schon bei Audi gejobbt. Sehr guter Verdienst in den Semesterferien. Beispielsweise: Teile ans Band liefern, A2-Fertigung in Neckarsulm. Schon damals, vor ca. 20 Jahren, beeindruckend: Die Just-in-Time-Anlieferung der Autoteile per LKW aus dem einige Kilometer entfernten Lager außerhalb des Werkes, genau dann, wenn sie gebraucht werden. Heute ein alter Hut. Heute dreht sich alles um digitalisierte Optimierung, um selbstfahrende Lagerfahrzeuge, um autonome Logistik. Industrie 4.0. Jonas Heldt hat mit „Automotive“ den Film zum Trend gedreht: Der Dienstleister Imperial liefert die Lagerlogistik für das Audi-Werk Ingolstadt: Halle, Regale, Fahrzeuge gehören Audi und Imperial liefert die Menschen – darunter Leiharbeiter wie die junge Seda. Parallel dazu beobachtet Heldt in Amsterdam die Headhunterin Eva, die sich auf Automatisierungs-Fachkräfte spezialisiert hat. Freelancerin – auch sie unter Erfolgsdruck

Seda und Eva: Beide machen Logistik. Die eine sorgt für den Fluss der Autoteile vom Regal ans Band. Die andere für den Fluss der Arbeitskräfte, insbesondere Fachkräfte, höhere Angestellte, Management, im Angesicht der anstehenden Digitalisierungswucht überall gefragt. Heldt begleitet beide, sie sprechen über ihren Beruf, über ihre Hoffnungen, über die Wünsche, darüber, was die Arbeit im Leben bedeutet. Beide aus ganz unterschiedlichen Sphären, und dennoch beide vergleichbar.

Seda weiß um ihre prekäre Lage. Sie sei kein Roboter, sagt sie, der Mensch kann Fehler machen. Aber wenn dann das Band eine Minute steht, kostet das 5 bis 6000 Euro, und sie wird gefeuert. Sie hofft so sehr auf eine Festanstellung! Heldt hat dramaturgisches Glück für seinen Film – denn mit Seda geht es zunächst bergab. Und der Zuschauer wird emotional ganz eng einbezogen, wenn sie – wie alle Leiharbeiter – im Zuge des Dieselskandals entlassen wird. Audi hat Probleme, also hat der Dienstleister Probleme. Audichef Rupert Stadler kommt in Haft, neue Motoren müssen erst noch entwickelt werden. Sedas Lebensplanung knickt ein; dabei wünscht sie sich nach wie vor einen eigenen Mercedes statt ihres alten Kleinwagens, Autos sind ihr Leben, Lagerarbeit macht Spaß, ist anspruchsvoll und abwechslungsreich und auf jeden Fall weniger nervig als ihr Lehrberuf der Kindergartenerzieherin.

Eva telefoniert. Sitzt in Meetings. Konferiert über mögliche Kandidaten, die sie ihren Kunden vermitteln kann – darunter Audi. Händeringend werden die gesucht, die den Konzern in die Zukunft führen können. Gute Zeiten für die Headhunterin, und sie weiß auch: Was sie tut, kann ein Algorithmus nicht schaffen. Der kann vielleicht Suchmaschinen, Social- und Business-Networks durchforsten, aber sie kann persönliche Mails schreiben, gerade für den Erstkontakt wichtig: Da hat sich jemand hingesetzt und sich mit dem Menschen beschäftigt. Sie weiß auch: Dass sie eine Frau ist, dass sie ein attraktives Profil-Foto aufweisen kann: Das hilft natürlich… Und sie ist gar nicht zynisch deswegen.

Seda will selbständig leben, nicht vom Elternhaus abhängig sein. Der Vater ist als Gastarbeiter gekommen, sie muss nach wie vor prekäre Leiharbeit leisten. Würde sie zuhause wohnen, stünde sie unter der Kontrolle des Vaters… Jetzt ist sie erstmal aufs Arbeitsamt angewiesen, schränkt den Zigarettenkonsum ein. Kriegt von der Mutter was zugesteckt. Währenddessen weiß Eva: Wenn sie mal genug verdient hat, dann wäre Hotelbesitzerin in der Karibik ihr Ziel. Zusammen mit ihrer Lebenspartnerin – aus Curaçao stammend – hat sie schon ein Bauprojekt in Aussicht.

Heldt gelingt es, die beiden Welten verständlich zu machen: eine kalt-kapitalistische Welt wie aus Marie Kreutzers Der Boden unter den Füßen, Berlinale 2019, und eine menschliche wie aus Thomas Stubers In den Gängen, Berlinale 2018: Das distanzierte Verschieben von Menschen und das persönliche Miteinander beim Verschieben von Waren. Und es gelingt dem Regisseur, zu zeigen, zu erklären, ohne anzuklagen oder jemanden verächtlich zu machen. Die Arbeitsagentur ist hilfreich, wenn der Sachbearbeiter erstmal verstanden hat, dass Seda nicht in den Kindergarten will: Der Staplerschein wird finanziert. Der Gewerkschafter schiebt zwar beim Streik mal alle Beschäftigten in Richtung IG Metall-Stand, ob sie wollen oder nicht; aber er kümmert sich auch, so gut er kann, um die Leiharbeiter. Der Chef von Imperial erzählt von den Weihnachtsbäumen, die er persönlich im Wald schlägt, um den Mitarbeitern seine Wertschätzung zu zeigen, doch auch jenseits derartig hohlen Symbolgeschwätzes hat Seda dort eine Chance. Die Audi-PR-Managerin ergeht sich zwar in Worthülsen und Phrasen darüber, wie die Digitalisierung hilft und wie die Mitarbeiter weitergebildet werden; doch aus dem Hintergrund müssen fleißige PR-Helferlein Zahlen und Fakten einflüstern; und andererseits ist das eben genau das Problem: Dass keiner weiß, was wie kommen wird, und dass nur das möglichst breite Aufstellen hilft. Auch, wenn es dafür noch keine Worte gibt.

Im Hintergrund lauert die Zukunft. Braucht es bald keine Staplerfahrer mehr? Im Hintergrund lauert auch der Klimawandel: Von Evas Büro aus blicken wir mal runter auf eine Fridays for Future-Demo, und dass Audi in der Kacke steckt, hat sich die Firma zu einem großen Teil selbst zuzuschreiben – Seda darf es ausbaden. Im Hintergrund lauert auch die AfD. Wenn die Mitarbeiter – bei Audi oder Imperial, fest angestellt oder nur als Leihkraft – nicht wissen, wie es mit ihnen weitergehen wird, wenn die Industrie zu schnell fortschreitet, dann hoffen die Extremen auf Zulauf – auch deshalb steht der Gewerkschafter hinter seinen Arbeitern.

Passend gewählte Protagonistinnen, prägnant einmontierte Interviewaussagen, dynamische Dramaturgie, faire Erzählhaltung und kluge Argumentationsführung: In gerade mal 80 Minuten schafft es Jonas Heldt, das komplexe Feld von privatem Schicksal und privaten Träumen, industrieller Unsicherheit und unausweichlichem Fortschritt, Ökonomie und Politik kompakt und griffig zu kartieren.

Automotive (2020)

Während Sedanur in Ingolstadt die ganze Nacht damit verbringt, Autoteile zu sortieren, sucht Headhunterin Eva nach Fachkräften zur Automatisierung in der Logistik. Zwei ungleiche Vertreterinnen einer Generation, in der jede*r früher oder später ersetzbar wird.

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