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In seinem dokumentarischen Film-Essay „Anhell69“ schildert Theo Montoya, wie Träume zertrümmert werden – und dennoch fortbestehen.

Anhell69 (2022)

Eine Filmkritik von Andreas Köhnemann

Der Film, den es nicht gibt

Er habe über sein Leben nachgedacht, erläutert der aus Medellín, der zweitgrößten Stadt Kolumbiens, stammende Autor, Regisseur und Produzent Theo Montoya in einem kurzen Statement zu seinem Langfilmdebüt „Anhell69“. Und das bedeute für ihn, „über Krieg, Religion und das Kino zu sprechen“. Via Voice-over bezeichnet er Medellín als Geisterstadt; und von Geistern wollte er auch in einem B-Movie erzählen, das er mit seinen Freund:innen vorbereitete – sowie mit einem Hauptdarsteller, der sich im Netz „Anhell69“ nannte. Doch dann starb sein erwählter Star an einer Drogen-Überdosis, wie auch schon viele andere Leute in Montoyas Umfeld.

Das essayistisch gestaltete Werk, das der kolumbianische Filmemacher nun geschaffen hat, ist nicht das Ghost-Movie, das er einst im Sinn hatte. Jenes Projekt bleibt wohl für immer etwas, das nicht existiert – beziehungsweise nur als geistiger Entwurf, als nicht ausgereifte Idee eines kreativen jungen Menschen. Anhell69 ist indes eine Geisterbeschwörung der völlig anderen Art geworden – ein audiovisueller Bewusstseinsstrom über die Vergangenheit und über den erschütternden Mangel einer Zukunftsperspektive. Ein zutiefst persönlicher Film, der wie die ursprünglich intendierte Genre-Arbeit durch die dunkle Nacht streift und dabei bedrohliche Dinge entdeckt.

Zwei Jahre nach dem frühzeitigen Tod des berüchtigten Drogenbarons und Terroristen Pablo Escobar (1949-1993) in Medellín wurde Montoya ebendort geboren. Ungefragt sei er „in die Welt geworfen“ worden, meint der Regisseur als unsichtbarer Erzähler. Wir sehen sein Jugendzimmer, in dem sich etliche Insignien der westlich-kapitalistischen Sphäre befinden: Sticker mit den Firmenlogos von Nike, Adidas und Coca-Cola, ein Bild der Sängerin Britney Spears und ein Plakat des James-Cameron-Hits Titanic (1997) mit Leonardo DiCaprio und Kate Winslet. Popkulturelle Fluchtmöglichkeiten, die von der tristen, repressiven und oft extrem gefährlichen Realität abzulenken vermögen.

Montoya nimmt uns in einen queeren Underground-Club mit – eine weitere Parallelwelt neben den Luxusmarken, der populären Musik und der Blockbuster-Magie. Die von ihm selbst geführte Kamera erzeugt energische und zugleich äußerst melancholische Bilder, stimmig untermalt von den Klängen von Vlad Feneșan und Marius Leftărache. Darüber hinaus begleiten wir einen Casting-Prozess. Montoya interviewt junge queere Personen und lässt sie über ihre Einstellungen und ihre Erfahrungen reden. Wie denken sie über Kolumbien? Wie ist die Beziehung zur Familie? Wovon träumen sie, wovor haben sie Angst?

Anhell69 zeigt die Gewalt und die Unterdrückung, der Montoya und die Befragten sowie eine ganze Generation ausgesetzt sind. Er beschönigt nichts. In seinem Statement sieht der Filmemacher sein Werk auch als „Warnung an die Generationen und Regierungen, die uns folgen werden.“ Durch die Gemeinschaft, die die jungen Leute bilden und die letztlich zur Entstehung dieses (alternativen) Films geführt hat, blitzt jedoch auch ein Funken Hoffnung auf. Vieles wurde zerstört, auch das zunächst geplante Projekt. Aber Anhell69, in seiner jetzigen Form, ist da – und ist verdammt beeindruckend.

Anhell69 (2022)

Ein Leichenwagen fährt durch die Straßen von Medellín, der zweitgrößten Stadt Kolumbiens. Ein junger Regisseur liegt im Sarg und erinnert sich an die Vorbereitungen für seinen ersten Film, ein B-Movie über Geister. Die Rollen wollte er mit seinen Freunden besetzten, den jungen queeren Menschen aus Medellín, die gegen ein repressives Umfeld kämpfen. Aber sein Hauptdarsteller, der auf Instagram „Anhell69“ heißt, stirbt an einer Überdosis, wie auch so viele weitere Freunde. Trotzdem entsteht ein Film – es ist aber ein ganz anderer, als geplant. (Quelle: Salzgeber)

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