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Der Dokumentarfilm stellt die Frage, warum Menschen in verschiedenen Gegenden der Welt für die Unabhängigkeit ihres Landes oder ihrer Region kämpfen. Im Zentrum aber steht die Suche der afrodeutschen Schauspielerin Helen Wendt nach ihren Wurzeln in Mosambik, die eine Reise zu sich selbst wird.

Independence (2023)

Eine Filmkritik von Bianka Piringer

Aus einem freien Land

Für Helen Wendt hat der Begriff Unabhängigkeit viele persönliche Facetten. Nach der Befreiung aus portugiesischer Kolonialherrschaft schickte der unabhängige Staat Mosambik einst Leute zum Studieren in die DDR. Zu diesen gehörte auch ihr Vater, der sich in eine DDR-Bürgerin verliebte, aber von Mosambik schon zurückgerufen wurde, bevor die Tochter zur Welt kam. Kurz vor dem Mauerfall flüchtete Helens Mutter mit ihr nach Westberlin, weil sie ihr Leben unabhängiger von staatlicher Bevormundung gestalten wollte. Die junge Schauspielerin fühlt sich in Deutschland beheimatet, fragt sich aber, ob ihre Selbstwahrnehmung unabhängig ist von den Reaktionen, die ihre Hautfarbe auslöst.

Warum schließen sich Menschen Unabhängigkeitsbewegungen an? Wie hängen diese mit einem Bedürfnis nach kollektiver Zugehörigkeit zusammen, aus der sich auch die persönliche Identität speist? Es sind sperrige Themen, die der im dokumentarischen Theater beheimatete Regisseur Felix Meyer-Christian in seinem Filmdebüt behandelt. Er befragt Widerstandskämpfer*innen, Anhänger*innen politischer Bewegungen, Bürger*innen in Mosambik, Südsudan, Großbritannien, Katalonien, Bayern. Die offene Struktur des Essays, dem keine zu beweisende These zugrunde liegt, erlaubt ein Herantasten an die unterschiedlichen Situationen vor Ort und ihre historischen Wurzeln. Eine hybride Form entsteht mit der zentralen Protagonistin Helen Wendt, deren Reise nach Mosambik zu einer intensiven Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Identität führt.

In Mosambik führt Helen Wendt lange Gespräche mit ihrem Vater und ihrer Halbschwester. Sie interessiert sich nicht nur für die Erinnerungen des Vaters an die DDR, sondern auch dafür, was er und andere über die Befreiung des Landes aus der Kolonialherrschaft der Portugiesen erzählen. Auf der Straße fühlt sie sich als Einheimische akzeptiert. Und so wird ihr allmählich bewusst, dass sie schon von Kind an in Deutschland ihre Schwarze Identität ein Stück weit verdrängt hat, um dazuzugehören. Sie hatte in der Ballettschule diskriminierende Bemerkungen gehört und erfuhr sogar am Theater bei der Rollenvergabe rassistische Benachteiligung. Die aufrichtige und tiefgründige Art, wie sich Helen Wendt mit ihren Wurzeln und ihrem Selbstbild auseinandersetzt, berührt.

Wendt ist auch auf der Bühne zu sehen, mit einer kleinen Gruppe, welche die choreografische Installation Independence in Space aufführt. Diese Installation entstand wie der Film als Teil eines plattformübergreifendes Projekts mit dem Titel Fight (For) Independence, das 2018 begann und in dem Meyer-Christian und sein Team dokumentarisches Theater, Tanz, Virtual Reality und Film zusammenführen wollten. Der Ausbruch der Corona-Pandemie 2020 ließ die Bühnenproduktion platzen und so reduzierte sich die Arbeit auf diesen Dokumentarfilm.

Die Installation dürfte vor allem ein kunstaffines Publikum ansprechen. Die Zuschauer*innen müssen generell eine gewisse Bereitschaft mitbringen, gewohntes filmisches Territorium zu verlassen. Es fehlt ein roter Faden, der alle Teile stringent verbindet. Auf den ersten Blick passen Stimmen zum Brexit, aus der Bayernpartei – sogar in Bayern gibt es sezessionistische Ideen – und aus Mosambik einfach nicht zusammen. Wenn in Mosambik und in Südsudan Zeitzeug*innen und Politiker*innen zu Wort kommen, reicht der filmische Raum leider auch nicht aus, um über den Unabhängigkeitskampf, die sozialen Konflikte und die neuen politischen Missstände wirklich zu informieren. Aber dass der Film Anschauungen sammelt, die sich nicht auf einen Nenner bringen lassen, erscheint auf den zweiten Blick durchaus reizvoll. Es regt zum Weiterdenken an, wie unterschiedlich Unabhängigkeit verstanden, ausgelegt und gestaltet werden kann.

Die Stärke des offenen Ansatzes zeigt sich beispielsweise in England, wo ein Ehepaar den Brexit eloquent befürwortet. Seine Argumente, die Europäische Union habe dem englischen Volk zu viel politische Macht entzogen, werden nicht ins Lächerliche gezogen, sondern wirken, so wie sie vorgetragen werden, durchaus nachvollziehbar. Es kommen aber auch Menschen zu Wort, welche die englische Abschottungspolitik beklagen oder unter den mit ihr verbundenen fremdenfeindlichen Tendenzen in der Gesellschaft leiden. Das politische Streben nach Unabhängigkeit kann, wie die filmischen Beispiele zeigen, auf Außenstehende notwendig oder irrational wirken, berechtigt oder überzogen. Eine Gesellschaft aber, die sich emanzipiert, sollte auch – das scheinen der Film und seine zentrale Protagonistin nahezulegen – die Diversität ihrer Mitglieder aushalten.

Independence (2023)

Die afrodeutsche Schauspielerin Helen Wendt begibt sich auf eine Spurensuche entlang ihrer Familiengeschichte, ihrer Identität und ihrer persönlichen Unabhängigkeit zwischen der DDR, Mosambik und Berlin. Während sie durch die Begegnungen mit ihrer Familie mehr über ihre Vergangenheit erfährt, folgt der Film Unabhängigkeitsbewegungen in Mosambik, Südsudan, Großbritannien, Katalonien und Bayern – und fragt: Was bedeutet Unabhängigkeit wirklich und wie prägen Kolonialismus und Rassismus die Welt bis heute? (Quelle. Filmfestival Max Ophüls Preis 2023)

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