Log Line

Ein ökosoziales Kulturzentrum als Leuchtturm für die Region und weit darüber hinaus: Filmkritiker und Dokumentarfilmer Wolfram Hannemann beleuchtet in sinnlichen und informativen Bildern, was die „Alte Seegrasspinnerei“ im schwäbischen Nürtingen so besonders macht. 

Alte Seegrasspinnerei - Ökologisches, soziales und kulturelles Zentrum (2023)

Eine Filmkritik von Peter Gutting

Den Kindern eine Stimme geben

Nürtingen ist ein kleines, gemütliches Städtchen mit 42 000 Einwohnern, rund 30 Kilometer südöstlich von Stuttgart. Hier gibt es ein pädagogisches und ökosoziales Kulturzentrum, das jeder Millionenstadt zur Ehre gereichen würde: die „Alte Seegrasspinnerei“. In drei schmucken, unter Denkmalschutz stehenden Gebäuden bietet der „Trägerverein Freies Kinderhaus“ nicht nur kindgerechte Tagesbetreuung und Jugendarbeit an, sondern auch eine Kantine mit täglich über 100 Essen, aber auch für Kulturveranstaltungen, Arbeit mit Geflüchteten, Kreativwerkstätten und als Treffpunkt für jedermann. Man kann gar nicht alle Aktivitäten aufzählen, allein der Jahresbericht des Vereins umfasst 86 Seiten. Umso bewundernswerter ist es, wie Dokumentarfilmer Wolfram Hannemann seinen sinnlichen und informativen Überblick über die Kernanliegen der über 50 Mitarbeiter in knackige 67 Minuten packt.

Natürlich zeigt der Film eine Menge Erwachsene, die Sinn und Zweck der Kulturarbeit erläutern: Sie soll jedem und jeder ermöglichen, die eigenen schöpferischen und zwischenmenschlichen Potenziale zu entdecken und zu erweitern. Es zählt aber zu den schönsten und berührendsten Momenten des Films, wenn die Kinder selbst ihre Stimme erheben. Sie zeigen dem Publikum die Räumlichkeiten, erklären, was man dort machen kann, und was ihnen daran gefällt. Der Film bildet damit auch eine zentrale Vision der Zentrumsgründer ab: Dass Kinder einen Freiraum finden, den sie selbst nach ihren Wünschen gestalten können – und in dem sie frei von den Vorgaben der Schule, des Elternhauses und des sozialen Umfeldes entdecken kann, was ihnen wirklich wichtig ist.

Entstanden ist der Verein 1985 als Kinderbetreuungsinitiative von Eltern, die ihren Kleinen mehr bieten wollten als die vorhandenen Kindergärten und Tagesstätten. Auf der Suche nach Räumlichkeiten stießen die Gründungsmitglieder Julia Rieger und Pit Lohse, die auch heute noch als Geschäftsführer dabei sind, auf ein zentral gelegenes Areal, das von der Post gepachtet war, aber von ihr nicht genutzt wurde. Der Deal damals: Überlassung der denkmalgeschützten Räumlichkeiten gegen Renovierung und Instandhaltung. Schon bald gab es neben den Betreuungsangeboten auch die „Kinderkulturwerkstatt“, ein offenes Angebot für alle Kinder der Stadt, geleitet von Kunsttherapeuten, denen es auf eine Kreativität ankommt, die von innen heraus entsteht. Sie vermeiden Vorgaben, bieten lediglich diverse Materialen und Hilfestellung wo erwünscht, damit die Kinder ihre Ideen in die Tat umsetzen können.

Regisseur Wolfram Hannemann (Kultourhelden, 2021), der auch als Filmkritiker tätig ist, legt den Akzent auf diese Kernbotschaften des ungeheuer vielfältigen Begegnungszentrums. Dabei vermeidet er ein Übergewicht der Wortbeiträge und setzt visuell ansprechende Gegenakzente durch Luftaufnahmen, Montagesequenzen oder Zeitraffer. So entsteht ein buntes und zugleich klar strukturiertes Bild von dem, was Nürtingens Oberbürgermeister Johannes Fridrich als ein Alleinstellungsmerkmal seiner Stadt ansieht: Ein Zentrum, das „Vergnügliches und Sinnhaftes“ miteinander vereine. 

Der Film versammelt eine Menge von Stimmen, die erzählen, was die Alte Seegrasspinnerei für sie selbst in jungen Jahren oder für ihre Kinder bedeutet hat. Mit dabei sind Stadträte verschiedener Parteien, viele Geschäftsleute und sogar der ehemalige Landesumweltminister Franz Untersteller, der seine Kinder dorthin schickte. Er sagt den bemerkenswerten Satz: „Viele zehren heute noch von diesen Erfahrungen, auch wenn sie es gar nicht merken“. Die plastischste Geschichte erzählt aber Mitgründer Pit Lohse. Sie handelt von einem Punker, dem man wegen kleiner Straftaten ständig hunderte Stunden von gemeinnütziger Arbeit aufbrummte. Irgendwann schickte ihn die ratlose Jugendgerichtshilfe in die Seegrasspinnerei. Weil man ihm dort auf Augenhöhe begegnete, fühlte er sich wohl, entwickelte handwerkliche Fähigkeiten und entdeckte seine Freude am Gipsen. Irgendwann konnte er sogar andere Leuten bei der Arbeit anleiten. Das tat er nicht auf Aufforderung, sondern weil für ihn die Zeit reif war, einen neuen Schritt in der Persönlichkeitsentfaltung zu wagen. Raum und Zeit geben sind für Pit Lohse Kernpunkte der Seegras-Philosophie. 

Der Film verschweigt nicht, dass er vom Trägerverein des ökosozialen Kulturzentrums mitproduziert wurde und man somit vom Filmemacher keine unparteiische Haltung erwarten darf. Aber er ist alles andere als eine lieblose Auftragsarbeit. Das Herzblut, mit dem gedreht und geschnitten wurde, spürt man in jeder Einstellung. Und warum soll ein Filmemacher keine Sympathie zeigen für ein Projekt, das als Leuchtturm sein Licht längst über die Stadt und die Region hinaus strahlen lässt? Im Übrigen kommt der Film genau zur richtigen Zeit. 2026 läuft der Pachtvertrag für die drei denkmalgeschützten Häuser aus. Die Alte Seegrasspinnerei muss vielleicht nicht nur Räume suchen, sondern auch den Generationswechsel schaffen. Die Geschäftsführer und eine Reihe von Aktiven sind von Anfang an dabei. Also seit fast 40 Jahren.

Alte Seegrasspinnerei - Ökologisches, soziales und kulturelles Zentrum (2023)

Seit fast 40 Jahren wirkt die „Alte Seegrasspinnerei“ in Nürtingen (Baden-Württemberg) als ökologisches, soziales und kulturelles Zentrum. Getragen von einem Jugendhilfeverein liegt der Fokus dabei sehr stark auf Kinder und Jugendlichen. Die Strahlkraft dieses Vorzeigeprojekts ragt inzwischen weit über Nürtingen hinaus. Der Film stellt die Macher hinter den Kulissen vor und zeigt die wichtigsten Gewerke dieses einmaligen Projekts, dessen Existenz durch das Auslaufen des Mietvertrags im Jahre 2026 auf eine harte Probe gestellt werden wird. 

  • Trailer
  • Bilder

Meinungen