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Über eine Dekade hinweg hat Enrique Sánchez Lansch in „A Symphony of Noise“ die Arbeit des Musikers Matthew Herbert begleitet und dabei einen ausgiebigen Einblick in dessen gedankliche Welt erhalten.

A Symphony of Noise (2021)

Eine Filmkritik von Andreas Köhnemann

Der Klang zertretener Eierschalen

Es gibt Künstler_innen, die sich strikt weigern, über ihr Werk und dessen Bedeutung zu sprechen. Das Werk soll selbst erzählen – und wir sollen genau hinhören, statt Fragen zu stellen. Grundsätzlich ist diese Haltung natürlich absolut legitim. Denn Kunst lässt sich nicht erklären. Eine Erklärung durch die Person, die etwas geschaffen hat, kann im schlechtesten Fall gar dazu führen, dass ein Werk jegliches Geheimnis und damit jegliche Faszination verliert.

Aber das muss nicht zwangsläufig so sein. Der erstaunlich mitteilsame britische Musiker Matthew Herbert demonstriert mit seinen ausführlichen Schilderungen in Enrique Sánchez Lanschs dokumentarischem Porträt A Symphony of Noise, wie die artikulierten Gedanken eines Künstlers dessen eigenes Werk nur noch reizvoller machen – und dazu führen, dass wir noch genauer und noch interessierter hinhören. Als „Komponist, Autor und Macher von Dingen“ stellt sich Herbert zu Beginn vor, ehe er mit einem Lächeln hinterherschiebt, dass er hoffe, auch ein „Unruhestifter“ zu sein.

Die Unruhe entsteht bei Herbert dadurch, dass er in seiner Musik mit ungewöhnlichen Geräuschen arbeitet – etwa mit Tierlauten wie dem Grunzen eines Schweins auf einem Bauernhof, das zum „Star“ seines Albums One Pig wurde. Mal begibt sich Herbert in die Natur, um Geräusche vor Ort aufzunehmen. So dokumentiert er mit seinem Aufnahmegerät beispielsweise auch, wie ein Baum gefällt wird. Und mal unternimmt er Klangexperimente im Innenraum: das Treten auf Eierschalen, das kollektive Ausatmen einer Menschengruppe, das Frittierten einer Trompete. Manches davon mag zunächst wie Nonsens anmuten, ist aber immer mit spannenden Überlegungen verbunden.

Obendrein ist Herberts Werk auch politisch. So gründete der Brite als kritischen Kommentar auf den Brexit die Brexit Big Band, die das exakte Gegenteil des Brexit-Gedankens ist: eine offene Kollaboration von Künstler_innen aus ganz Europa, in der die Fantasie und die Kreativität gefeiert werden. Bei allem, was Herbert macht, ist die Offenheit das Eindrücklichste. Er denkt nicht in Schubladen: Wolle man etwas Bedeutendes machen, müsse das nicht immer ernst sein, sagt er an einer Stelle des Films. Und die Mischung aus Leichtigkeit und Humor auf der einen Seite und Reflexion und Tiefe auf der anderen Seite ziehen sich sowohl durch Herberts Œuvre als auch durch A Symphony of Noise.

Über einen Zeitraum von zehn Jahren hat Sánchez Lansch den Künstler beobachtet. Herbert lässt sich über die Schulter und – vor allem – in seinen Kopf schauen. Der Film verzichtet darauf, Herberts bisherigen Werdegang durch Archivaufnahmen oder durch Fotografien zu rekonstruieren. Doch wenn Herbert davon erzählt, wie er als Jugendlicher seine ersten Aufnahmen machte und seinen individuellen Weg fand, ist das ebenso lebhaft wie die Eindrücke, die wir in den diversen Schaffensprozessen im Laufe der zehn Jahre gewinnen. So unprätentiös und zugleich so leidenschaftlich und inspirierend wie Herbert zu sein – das ist zweifelsohne noch mal eine ganz eigene Kunst.

A Symphony of Noise (2021)

Der Film ist die Reise in den Kopf eines spannenden Künstlers und musikalischen Visionärs. Matthew Herbert ist ein Star der elektronischen Musik mit politischer Botschaft. Wir beobachten diesen einzigartigen Konzeptkünstler bei der Kreation eines völlig neuen Werkes — einem Buch. Intellektuell und spannend!

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