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Winter 1972: Die französische Schriftstellerin Annie Ernaux, die 2022 den Literaturnobelpreis erhielt, kauft sich ihre erste Super-8-Kamera, mit der ihr Familienleben bis 1981 aufgezeichnet wird. Jahrzehnte später hat sie mit ihrem Sohn David Ernaux-Briot ein vielschichtiges Filmessay montiert.

Annie Ernaux - Die Super-8 Jahre (2022)

Eine Filmkritik von Simon Hauck

Frausein, Freisein

„Ich ist ein Ort, an dem menschliche Dinge geschehen“. „Ich ist eine andere, so stelle ich mir das beim Schreiben vor.“ „Ich habe nie etwas gewollt: außer Liebe und Literatur“. Das sind drei aktuelle O-Töne der frisch gebackenen Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux, die ebenso gut als Voice-over-Einschübe für ihr erstes Filmessay Annie Ernaux – Die Super-8-Jahre gepasst hätten, das im Mai in Cannes seine Weltpremiere feierte und aktuell in der ARTE-Mediathek wie im Kino (und zum Glück in der OmU-Fassung) zu sehen respektive zu hören ist.

Dabei lässt die zeitgenössische Ikone des autofiktionales Schreibens („Der Platz“/„Das Ereignis“/„Das andere Mädchen“) ihr eigenen Leben zwischen 1972 bis 1981 noch einmal Revue passen. Und zwar mittels titelgebender Super-8-Aufnahmen, die allerdings nur im technischen Sinne stumm sind, und gerade durch ihren kontrastreichen Kommentar als soziologisch geprägte Feministin eine wunderbare Metaebene eröffnen.

Denn sie erzählen vielmehr eine Menge vom Frausein, Freisein und Familie-Sein in den libertären 1970ern, als sich tradierte bourgeoise Rollenbegriffe im Post-68er-Bewusstsein erstmals aufzuweichen begannen und so gerade auch das Bild ausgesprochen moderner Frauen über den Rhein nach Deutschland schwappte, was diesem hochintimen Zeitgeistreigen eine zusätzlich spannende Ebene verleiht.

Obwohl ihr dauerposierender Mann Philippe Ernaux, mit dem die gefeierte Schriftstellerin bis zu Beginn der Mitterand-Ära (1981) verheiratet war, das Gros des ausgesprochen ästhetisch gefilmten Home-Video-Materials in Personalunion beisteuerte, ist der literarische Geist der 1940 in Lillebonne geborenen Französin in jeder Einstellung zu spüren.

Eintauchen kann man hierbei in eine heute kaum noch vorstellbare Konstellation: Eine französische Mittelschichtsfamilie, also ein „westlicher Klassenfeind“ im Politverständnis der Ostblockstaaten, reist nach Marokko („Drei Wochen friedliche Langeweile. Nur unterbrochen von Ausflügen nach Chefchaouen und zu den Königspalästen…“), in Salvador Allendes Chile, in Enver Hoxhas Albanien und sogar ins Zentrum des Kommunismus-Stalinismus: nach Moskau.

Im filmisch korrespondierenden Wechselspiel mit Schnappschüssen von weihnachtlichen Familienfeiern wie Sommerurlauben an der Ardèche oder schlichtweg privaten Momentaufnahmen flackert auch hier Ernaux‘ markant-präziser Sprachduktus und offen autobiografisch konnotierter Erzählton kongenial auf.

Zugleich zeichnet ihr erster Dokumentarfilm im Subtext Ernaux‘ Genese als zukünftige Schriftstellerin von Weltraum nach, indem aus der scheuen Lehrerin, Mutter, Haus- und Ehefrau, die (noch) im Verborgenen schreibt, peu à peu eine literarische Stimme wird, deren erster großer Roman („Der Platz“) schließlich zu Beginn der 1980er Jahre für internationales Aufsehen sorgt.

Des Weiteren strotzt ihr Filmessay nur so vor typischen Ernauxismen: Das Reflektieren über (Ex-)Klassenzugehörigkeiten und politische Veränderungen im Privaten; genauso wie der wiederkehrende Widerstreit zwischen konservativen Gepflogenheiten und feministischem Eigensinn, der auch zum Ende ihrer Beziehung mit Philippe führt, mit dem sie als junge Mutter immerhin zwei Söhne – Eric und David – bekam. Mit überwiegend kritischer Distanz zum Gezeigten sowie hoher Sensibilität und einem guten Gefühl, „um den Geschmack und die Farben dieser Jahre zu vermitteln“ (Annie Ernaux), ist der ersten französischen Literaturnobelpreisträgerin in der Summe ein ebenso komplexes wie zeitgeistiges Familientableau gelungen.

Zwischen erlebter Club-Méditerranée-Tristesse und erkämpfter persönlicher Freiheit am Schreibtisch schillert Annie Ernaux – Die Super-8-Jahre in jeder körnigen Sequenz von erhellenden Aus- und Aufbruchsversuchen der 82-Jährigen („Wir waren Linke, keine Kommunisten“). Das „akute Zeitgefühl“, das sie als dezidiert weibliche Schriftstellerin zwischen der geblümten Kittelschürze ihrer Mutter und dem zunehmend gehobenem Interieur ihrer Lebenswelt einfangen wollte, ist in diesen 62 komprimierten Minuten jederzeit greifbar – und eine wahre Wucht.

Oder in den treffend-schnörkellosen Worten Ernaux‘: „Der Film ist eine Erweiterung der Einschreibung des Individuums und des Familiären in das Soziale und Historische, die mit meinem Schreiben einhergeht“. Nostalgie fehlt hier allerorten. Was bleibt ist das Verblassen einer Ehe sowie der Wunsch nach größtmöglicher Individuation in der Zeit nach 1968 in Frankreich.

Annie Ernaux - Die Super-8 Jahre (2022)

Homevideos, die von Annie Ernaux und ihrer Familie zwischen 1972 und 1981 gedreht wurden, verbinden sich mit den Themen, die die Schriftstellerin seit rund 60 Jahren bewegen.

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