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Der taiwanesische Regisseur Mong-hong Chung hat ein suggestives Familiendrama geschaffen, das eindrücklich von der Beziehung zwischen Vater und Sohn erzählt. Er zeigt auf, welche Bürde die Erwartungen der Gesellschaft und der Familie für den Einzelnen sein können.

A Sun (2019)

Eine Filmkritik von Teresa Vena

Das Schicksal in die eigene Hand nehmen 

Von sanften Klängen begleitet fährt ein Motorrad durch die städtische Nacht. Vom subtropischen Regen schützen sich die beiden Männer mit gelben, im Wind flatternden Überwürfen. Gleich zu Beginn evoziert „A Sun“ eine poetische Stimmung, die nur knapp am Sentimentalen vorbeigeht. Der Kontrast zwischen dem eingespielten Wiegenlied und der darauffolgenden Szene, in der einer der beiden Männer einem anderen in einem Restaurant eine Hand abhackt und sich letzterer vor Schmerzen in einer Blutlache windet, führt in den Charakter des Familiendramas ein, der bewusst aus gegensätzlichen Emotionen komponiert ist. Das Bild der abgetrennten Hand, die in den Suppentopf gefallen ist und langsam darin versinkt, steht gleichfalls symptomatisch für die Mischung aus ernster Dramatik und schwarzem Humor, die der taiwanesische Regisseur Mong-hong Chung über zweieinhalb Stunden konsequent durchhält und meisterhaft beherrscht. 

A Sun ist Chungs fünfter Spielfilm seit 2008, als der Regisseur bereits mit Parking auf internationalen Festivals, allen voran Cannes, vertreten war. Nach Soul (2013) ist A Sun der zweite Spielfilm des Regisseurs, der als Taiwans Oscar-Einreichung vorgesehen wurde. In Taiwan hat Chung für sein neustes Werk die größte Filmehrung des Landes, den Golden Horse, verliehen bekommen. Nachdem der Film nach seiner Premiere 2019 beim Filmfestival in Toronto nur einem beschränkten Publikum bekannt wurde, erfährt es nun, seit es ins Repertoire der Netflix-Plattform aufgenommen wurde, verdienterweise wachsende Aufmerksamkeit. 

Mit der Konsequenz einer griechischen Tragödie begleitet die Geschichte eine mittelständische Familie, die auf mehrere harte Proben gestellt wird und zu zerbrechen droht. Ob man sein Schicksal selbst in der Hand hat oder nicht, wird zu einem Schlüsselgedanken des Films. Das Leben sei wie eine Straße, meint einmal A-wen (Yi-wen Chen), der seit Jahrzehnten als Fahrlehrer arbeitet. „Wenn ihr das Lenkrad im Griff habt, bei Rot anhaltet, bei Grün langsam anfahrt und ruhig fahrt, geht auf der Straße des Lebens alles glatt“, predigt er seinen Schülern. Stimmt das? Und wie lässt sich das mit A-wens Mantra „Nutze den Tag. Wähle deinen Weg“, das er seinen Söhnen A-hao (Greg Han Hsu) und A-ho (Chien-Ho Wu) ständig vorbetet, vereinbaren? Soll man sein Schicksal in die eigene Hand nehmen oder duldsam ertragen, was es einem vorsetzt? Angesichts der Herausforderungen, denen die beiden Söhne gegenüberstehen, wirkt der Spruch des Vaters jedenfalls wie Spott.

A-ho kommt ins Gefängnis, A-hao nimmt sich das Leben. Was A-wen betrifft, sind beide Kinder seinen Erwartungen nicht gerecht geworden: An den älteren hatte er zu hohe gestellt, an den jüngeren zu tiefe. Dabei war ein Ungleichgewicht in der Einschätzung der beiden Söhne entstanden, das den zweiten im Schatten des ersten hatte leben lassen. Indem sich A-hao der Vorbildfunktion, die ihm sein Vater zugedacht hatte, entzog, brach A-wens Familienkonstrukt auseinander.

Nur indirekt erfährt der Zuschauer von der Bürde, die A-hao getragen hat. Eine Freundin berichtet der Mutter, dass er einmal auf die Frage, was das Gerechteste auf der Welt sei, geantwortet habe: „Die Sonne.“ Die Sonne strahlt auf jeden gleich hinab, sie macht keine Unterschiede. Er, der sich allerdings nach Schatten sehnte, um nicht so sehr exponiert zu sein, konnte seinen Zustand nicht aushalten. 

Doch genauso wenig lässt sich ein Leben im ständigen Schatten ertragen. Die Zurücksetzung und das Gefühl des Nichtgenügens, die die Figur des A-ho erfährt, überträgt der Darsteller Chien-ho Wu durch eine feine Mimik und mit nur wenigen Worten. Auf der Bildebene wird A-hos Zustand dadurch verdeutlicht, dass er fast nur in nächtlichen Szenerien oder in Räumen ohne Tageslicht, wie im Gefängnis und in der Autowaschanlage, in der er arbeitet, agiert. A-hos Weg ins Licht ist steinig. Die Anerkennung durch seinen Vater erkämpft er sich nur langsam, bis letzterer am eigenen Leibe erkennt, dass überall, wo Licht fällt, zwangsläufig auch Schatten sein muss und dies zur Dialektik des Lebens gehört.  

Wortreicher kommuniziert A-wen, der vom taiwanesischen Schauspieler und Regisseur Yi-wen Chen verkörpert wird. In der Zeichnung seiner Figur findet sich immer wieder eine ironische Ebene. Seine Dialoge – in den meisten Fällen Monologe – sind von trockenem Humor. Einmal diskutiert er mit einem Schüler, der schon zum sechsten Mal durch die Fahrprüfung gefallen ist, ein anderes Mal versucht er, einen wütenden Mann, der den Übungsplatz mit Fäkalien überschwemmt, zur Vernunft zu bringen, oder er misst bei einem Besuch im Gefängnis seinen Blutdruck, während am Tisch nebenan sein Sohn und dessen schwangere Freundin verheiratet werden. Als die Standesbeamtin mit Luftschlangen wirft, um Stimmung aufzubringen, wie sie sagt, scheint die Komödie perfekt. Ähnlich verhält es sich mit der Türklingel der Familie, die ein Vogelgezwitscher nachahmt. Sie wirkt immer deplatziert, denn jedes Mal, wenn die Klingel geht, folgen schlechte Nachrichten. 

In A Sun konterkariert Chung das gesellschaftliche Rollenbild, aber auch Selbstbild des Mannes, das diesen als unfehlbaren und rationalen Entscheidungsträger sieht. Es ist die Hauptfigur des Vaters, die die bedeutendste Entwicklung durchmacht, indem sie sich zuletzt nicht mehr hinter einer strengen Fassade versteckt und zu ihren Gefühlen stehen kann. 
 
Inhaltlich wie formal ist A Sun dem poetischen Realismus verpflichtet. Genau und mit einem Sinn für Symmetrie komponiert Chung, der unter seinem Pseudonym Nagao Nakashima selber die Kameraarbeit übernommen hat, seine Bilder. Suggestiv setzt er seine meist elegische Musik ein, die im Kontrast zum aufgewühlten Gemütszustand seiner Protagonisten steht. In statischen, aber kurzen Einstellungen erzählt der Film dicht und präzise mit einem Hang zum Parabelhaften von Gefühlen wie Trauer, Stolz, Sehnsucht und Loyalität.

A Sun (2019)

Eine Familie hat mit der Inhaftierung ihres jüngsten Sohnes zu kämpfen. Doch die noch größere Tragödie steht ihnen noch bevor.

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Meinungen

Sabeth · 21.12.2020

Brillanter Film! Unbedingt sehenswert. Spannend und mitreißend!

Philip · 18.12.2020

Hut ab, und meine Hochachtung!
Ich bin ein grosser Fan koreanisch und chinesischer Filmdramen. Parasite fand ich schon grossartig, A Sun aus taiwanisch/ chinesischer Produktion hat mich echt umgehauen. Detailgenauigkeit und lange intensive Sequenzen, die einerseits
die Grossherzigkeit, auf der anderen Seite aber auch die existentielle Bedürftigkeit der Menschen offen zeigt. Die Härte des Regimes und die Restriktion lassen einen des öfteren erschaudern. Die Regie schafft es nahezu in Perfektion, eine Darstellung der südasiatischen Mentalität zu porträtieren. Die Leistung der Schauspieler kann authentischer nicht sein.
Überragene Kameraeinstellungen und ein wohldosierter soundtreck
machen aus A Sun ein Meisterwerk, das in dieser Form für mich eine absolut erstklassige Pionierarbeit darstellt.
Hervorragend und volle Punktezahl!!