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In „Becoming Giulia“ porträtiert Laura Kaehr einen Lebensabschnitt des Ballettstars Giulia Tonelli – und konzentriert sich dabei auf die Bewältigung diverser Hürden.

Becoming Giulia (2022)

Eine Filmkritik von Andreas Köhnemann

Zu Hause auf der Bühne

Die 1983 geborene Balletttänzerin Giulia Tonelli ist seit 2010 die Erste Solistin am Opernhaus Zürich. Als sie 2018 ihr erstes Kind zur Welt brachte, ging sie für elf Monate in Mutterschutz. Die Regisseurin Laura Kaehr begleitet sie in „Becoming Giulia“ bei der Rückkehr in den Beruf und fängt insgesamt drei Jahre in Tonellis Leben ein. „Es ist, als wäre ich wieder zu Hause“, meint die gefeierte Primaballerina, als sie wieder mit ihren Kolleg:innen zu proben beginnt, um bald erneut auf der Bühne zu stehen.

Das dokumentarische Werk erfasst die Faszination des Tanzes – für uns als Zuschauer:innen, aber auch für die Tanzenden. Dies liegt gewiss nicht zuletzt daran, dass Kaehr einst selbst in diesem Metier anfing, ehe sie sich dem Filmemachen zuwandte. „Der Tanz ist die Sprache, mit der ich aufgewachsen bin“, erklärt die Regisseurin in einem Interview. Und so gelingt es ihr zusammen mit ihren Kameraleuten Felix von Muralt und Stéphane Kuthy, diese spezielle Form der Kommunikation auch bei Tonelli sehr treffend in den Bildern festzuhalten. Auf gängige Mittel des Dokumentarfilms wie Off-Kommentare und Talking Heads kann Becoming Giulia dadurch verzichten.

Schon der Auftakt des Films zeigt Kaehrs audiovisuelles Stilbewusstsein – wenn Tonelli allein auf der Bühne im leeren Saal des Opernhauses tanzt. Später sehen wir Teile einer Inszenierung, sind hinter den Kulissen dabei und spüren die Erschöpfung nach einem großen Auftritt. Es wird deutlich, mit wie viel Disziplin und oft auch (Zeit-)Druck diese künstlerische Tätigkeit verbunden ist. Darüber hinaus erhalten wir Einblick in Tonellis privaten Alltag – in ihre Ehe mit dem ETH-Ingenieur Bernhard Auchmann, in die Haushalts- und Care-Arbeit.

Zu einem der thematischen Schwerpunkte des Werks wird die Herausforderung, Karriere und Mutterschaft zu vereinbaren – und die Verantwortung, die (unter anderem) Arbeitgeber:innen und Kolleg:innen dabei zukommt. Die Ballettwelt ist hier ein Mikrokosmos, in dem die Konflikte und Hindernisse für Eltern und insbesondere Mütter veranschaulicht werden; letztlich behandelt Becoming Giulia jedoch ein Sujet, das sich auf etliche andere Branchen übertragen lässt. Immer wieder wird Tonelli mit mangelnder Rücksicht konfrontiert, etwa wenn es um organisatorische Angelegenheiten geht.

Tonelli (die inzwischen sogar zweifache Mutter ist) lässt sich davon nicht entmutigen. Nach der „Wiederentdeckung“ ihrer Welt, wie sie ihre Rückkehr selbst beschreibt, fängt sie an, nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten zu suchen – denn die Rollen, die sie zu verkörpern hat, reizen sie nicht mehr; sie sehnt sich nach komplexeren Parts. In der britischen Choreografin Cathy Marston findet sie eine Verbündete, da diese sich ebenfalls für frische Geschichten und Figuren interessiert. Wie die beiden Frauen miteinander interagieren und sich austauschen, ist ein weiterer wichtiger Baustein in dem Entwicklungsprozess, der im Titel Becoming Giulia anklingt.

Becoming Giulia (2022)

Noch immer endet für viele Profitänzerinnen die Karriere mit einer Schwangerschaft – doch Ballettstar Giulia Tonnelli will noch höher hinaus als zuvor. Über drei Jahre gedreht, begleitet „Becoming Giulia“ sie auf ihrem Weg aus dem Mutterschutz zurück auf die großen, hart umkämpften Bühnen des Balletts. Das Vereinbaren von Traumkarriere und Mutterschaft erfordert viel von Giulia: Es ist ein Balanceakt zwischen eigenen und fremden Erwartungen. Regisseurin Laura Kaehr, selbst ehemalige Balletttänzerin, schafft ein intimes Portrait einer ambitionierten Frau, die gegen festgefahrene Rollenbilder ankämpft, um ihren eigenen Weg als Mutter zu gehen – inspirierend, weit über die Tanzwelt hinaus!

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