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Frühjahr 1945: Das 3. Reich steht vor dem Untergang. Aus allen Himmelsrichtungen stürmen alliierte Heeresverbände auf Hitlers Machtzentren. Parallel werden abertausende KZ-Häftlinge auf Todesmärsche geschickt. Martin Gressmanns Spurensuche in Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern rüttelt auf.

Nicht VerRecken (2021)

Eine Filmkritik von Simon Hauck

Keine Zeit zu Sterben

Martin Gressmann ist ein Spezialist für dokumentarische Zeitbilder: Sie strotzen vor historischer Genauigkeit und überzeugen zugleich mit strenger, aber formaler Brillanz wie mit narrativer Zugkraft und einem hohen Grad an Assoziationsspektren. Das hatte der 1953 in Hamburg geborene HFF München-Absolvent zuletzt etwa mit „Das Gelände“ (2014) und „Philip Rosenthal – Der Unternehmer, der nicht an den Kapitalismus glaubte“ (2016) eindrucksvoll unter Beweis gestellt.

 

Als er um die Jahrtausendwende zusammen mit Freunden ein Haus in der ländlichen Umgebung Berlins suchte, war der langjährige Dozent für Licht- und Look-Gestaltung an der Filmakademie Baden-Württemberg in vielen Ortschaften Brandenburgs und Mecklenburg-Vorpommers wiederholt auf Emaille-Schilder aus DDR-Zeiten gestoßen. Diese enthielten die Inschrift Todesmarsch April 1945, versehen mit einem roten KZ-Dreieck, einem vereinfacht aufgezeichnetem Routenverlauf sowie abstrahiert dargestellten KZ-Häftlingen: ausgemergelte Gestalten in Lumpen und meistens ohne Haare auf dem Kopf.

Nachdem er einen Bauernhof gefunden und mit der Renovierung begonnen hatte, stellte sich Gressmann wiederholt die Frage, ob Häftlinge dieser immer noch nicht vollends erforschten Todesmärsche im Zusammenbruch des 3. Reichs von der SS einst auch an seinem Grundstück vorbeigetrieben wurden. Rasch stieß er in seiner ausgiebigen Recherche- und Produktionszeit (2015-2021) auf die beginnende Irrlichtertour Heinrich Himmlers kreuz und quer durch das zerbröselnde Nazideutschland und die damit verbundenen Endphasenverbrechen und KZ-Strukturen im mobilen Einsatz, was kurz vor Kriegsende noch einmal abertausende NS-Häftlinge und -Zwangsarbeiter*innen das Leben kostete.

Bewusst unterernährt gehalten, zu harten Arbeitseinsätzen auf der Strecke herangezogen und von SS-Leuten („Schneller, schneller!“) und deren Hunden permanent drangsaliert, brachen viele Gefangene bereits in den ersten Tagen dieser barbarischen Touren („Wie kann man 250 km laufen?) zusammen. Wer nicht mehr konnte und am Ende einer „500-Kolonne“ angekommen war, den erwartete ein Genickschuss, wovon die zwölf Überlebenden in Martin Gressmanns Nicht verRecken ein ums andere Mal schrecklich nüchtern erzählen.

„Wir gehen in den Tod. Und wir können nicht aufhören, zu schreien. Es war schrecklich. Es war etwas, das man sich überhaupt nicht vorstellen kann“, erinnert sich einer von ihnen. Was mussten jene jungen Männer überhaupt in dieser düsteren Zeit nicht alles sehen und erleiden, denkt man sich während dieser zweistündigen Dokumentarfilmreise quasi im Minutentakt:  „Prügel auf Bock und Erhängung zur Musik“ nannte man beispielsweise die „Kulturstunden“ der SS am Nachmittag in den Konzentrationslagern.

Im selben Zug wurden diese meist aus dem KZ Sachsenhausen („Wir standen manchmal die ganze Nacht“) und dessen Außenstellen stammenden Gefangenen als diplomatisches Faustpfand missbraucht, weil Himmler parallel gegen den Willen „seines“ Führers Kontakt zu den Alliierten suchte; genauso wie zu Diplomaten aus dem neutralen Schweden, zu Vertretern des Roten Kreuzes in Genf oder zum jüdischen Weltkongress und sich in der Götterdämmerung des NS-Regimes sogar auf mehrere Menschendeals einließ. Auch wenn dessen SS-Schergen anschließend keineswegs Wort hielten und gegen die Gefangenen jener Todesmarschkolonnen weiterhin mit unvermindert großer Brutalität und menschenverachtendem Zynismus vorgingen.

Mittels harter Schnitte, eingeschobener Schwarzblenden (Montage: Stefan Oliveira-Pita) und zahlreicher Zeitzeugen als O-Ton-Geber entspinnt sich Minute um Minute eine bedrückende, sachlich gehaltene Deutschstunde eindringlichster Art. Ergänzt durch wenige Zeithistoriker*innen-O-Tönen sowie einen hellsichtigen Kommentar, den Aufnahmen aufgegebener Bahnstrecken, einsamer Landschaften und karger Industriegebiete (Bildgestaltung: Volker Gläser, Sabine Herpich) durchbrechen, reist Gressmanns Film weit zurück ins schwärzeste Kapitel deutscher Geschichte.

Wer seiner exzellent recherchierten und zutiefst aufrüttelnden Spurensuche folgt wird dafür als Zuschauer*in reich belohnt. Denn Nicht verRecken kann es in seiner Akribie wie in seiner Durchschlagskraft durchaus mit Nachlass (Regie: Christoph Hübner/Gabriele Voss), Heimat ist ein Raum aus Zeit (Regie: Thomas Heise) oder Ute Adamczewskis Zustand und Gelände aufnehmen. All diese verdienten Regisseur*innen stören mit ihren dokumentarischen Großfilmtaten jene unheilvolle Totenruhe – Gott sei Dank – immer wieder aufs Schärfste.

 

Nicht VerRecken (2021)

Immer weiterlaufen, um mit dem Leben davonzukommen… Anfang 1945 werden überall dort, wo die Front in die Nähe der Konzentrationslager kommt, Gefangene Richtung Westen getrieben. Häftlinge aus den Lagern Sachsenhausen und Ravensbrück müssen bis zu 250 Kilometer marschieren. Anfang Mai werden die Überlebenden der Tortur in Raben Steinfeld bei Schwerin, in Ludwigslust, in Plau am See und noch weiter nördlich von der Roten Armee und der US-Armee befreit.

Über sieben Jahrzehnte später folgt Regisseur Martin Gressmann („Das Gelände“) den Hauptrouten der Todesmärsche durch Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern, an denen heute 200 Gedenktafeln stehen. In seinem Film „Nicht verRecken“ lässt er die letzten, heute hochbetagten Zeugen zu Wort kommen.

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