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Die finanziell erfolgreichste Kinoproduktion 2020 kommt aus China: Der Kriegsfilm „The 800“ erzählt von einer Schlacht in Shanghai während des zweiten Japanisch-Chinesischen Krieges – und schüttet den Pathos literweise aus.

The 800 (2020)

Eine Filmkritik von Christian Neffe

Chinese War Stories

Helden erschaffen sich nicht selbst, Helden werden gemacht. In den Geschichten, die über sie erzählt werden. In den Reden, die über sie geschwungen werden. In den Büchern, die über sie geschrieben werden. Und in den Filmen, die über sie gedreht werden. Je größer die Gefahren, denen sie sich stellten, desto leichter fällt es, sie zu Helden zu erklären. Im Falle des chinesischen Kriegs-Blockbusters „The 800“ machen schon die schieren Zahlen die Sache einfach: 800 Verteidiger kämpfen hier gegen 20.000 japanische Angreifer in einer letzten, verzweifelten Schlacht um Shanghai.

Es ist das Jahr 1937: Die Japaner fallen im Sommer in China ein und nehmen im Handstreich weite Landesteile im Norden ein. Die militärisch unterlegenen Verteidiger ziehen sich zu Hunderttausenden zurück und überlassen Shanghai dem Feind. Lediglich das 524. Regiment der 88. Division erhält den Auftrag, die Stadt zu verteidigen. Ihre Festung ist ein ehemaliges Lagerhaus an einem Fluss. Auf der anderen Seite des Ufers: die internationalen Konzessionen, ein Art Schutzzone, in der etliche Chines*innen zwischen britischen, französischen und US-amerikanischen Staatsbürger*innen Schutz suchen und die aus diplomatischen Gründen von den Japanern weder bombardiert noch anderweitig angegriffen wird. Die 524. Regiment soll die Stellung davor halten, um der Bevölkerung einen letzten Moralitätsschub zu geben – und um durch ihre Beharrlichkeit, durch ihren Heldenmut internationale Unterstützung für China in diesem Krieg zu gewinnen.

So wie das Filmpublikum von The 800 werden die Menschen in den Konzessionen zu faszinierten Beobachter*innen des Kriegsschauspiels auf der anderen Seite: Regelmäßig versammeln sie sich am Flussufer, um dem Spektakel zu frönen. Zwischendurch vergnügen sie sich beim Glücksspiel oder bei Theateraufführungen. Der (nicht nur) visuelle Kontrast zwischen den farbenfrohen Lichtern und Reklamen der Konzessionen auf der einen und der grauen, zerstörten Einöde des Schlachtfeldes auf der anderen Seite des Flusses verleiht The 800 eine geradezu skurrile Ausgangslage. „Wenn das da drüber der Himmel ist, dann ist das hier wohl die Hölle“, fasst es Xie Jinyuan (Chun Du), Kommandant des 524. Regiments, treffend zusammen. Allein beim optischen Gegensatz bleibt es aber nicht.

Zum einen sorgt der Schauplatz dieses eindrucksvollen, auf einer Fläche von mehr als 130.000 Quadratmetern detailliert errichteten Sets stets für Orientierung im Chaos des Krieges. Zum anderen wird diese Konstellation auch erzählerisch-dramaturgisch genutzt: Immer wieder versuchen einige Soldaten, die Konzessionen über den Fluss zu erreichen, was ihnen jedoch beiderseits verwehrt wird. Auch in der gegenteiligen Richtung herrscht Bewegung – etwa wenn Versorgungsgüter per provisorischem Katapult ins Lagerhaus geschossen oder eine Kabeltrommel unter dem Beschuss japanischer Scharfschützen über die einzige, direkt angrenzende Brücke nach drüben gebracht wird, um eine Funkverbindung zwischen Soldaten und Konzessionen herzustellen.

Fünf Tage wehrt der Kampf der, so proklamiert es ein Off-Sprecher zu Beginn, „tapferen 800“, die sich gegen mehrere japanische Offensiven zur Wehr setzen. Diese stellen fraglos die Höhepunkte von The 800 dar, der in allererster Linie eine ästhetische Filmerfahrung ist: Die Schlachten sind fulminant umgesetzt, sehen jederzeit spektakulär aus und hören sich ebenso an. Es kracht und wummst, es wird vor Schmerzen und vor Panik geschrien, Staub, Schmutz und Asche wirbeln durch die Luft. The 800 wurde in Gänze im IMAX-Verfahren gedreht, mit jenen hochauflösenden Kameras also, die selbst Christopher Nolan nur szenenweise verwendet – und das sieht man dem Film auch an. Lange, mobile Einstellungen, meist in Bodennähe, komplettieren das visuelle Spektakel. Und machen The 800 zum inszenatorisch eindrucksvollsten Kriegsfilm seit Dunkirk.

Dort enden die Gemeinsamkeiten mit Nolans vorletztem Film allerdings auch. Deutlich mehr sind bei Zack Snyders 300 zu finden. Und das nicht nur beim ähnlich angelegten Titel sowie der Ausgangslage (eine Handvoll Verteidiger gegen eine Übermacht), sondern insbesondere beim Pathos. Essenzieller Bestandteil eines jeden Helden-Narrativs ist seit jeher die Aufopferung für etwas Höheres – in diesem Falle für das Vaterland, die große Nation China, deren letzter Funke Selbstbewusstsein und Stolz nun auf den Schultern der 800 liegt. Diese bestehen im Film zu einem guten Drittel aus Deserteuren – und der Film geht rigoros mit ihnen um. Wer nicht geläutert wird, also die Wandlung vom Feigling zum Helden durchmacht, stirbt eines brutalen Todes. Wer diese Transformation hingegen vollbringt, der bleibt vom On-Screen-Tod verschont. Getreu dem Mantra: Mögen sie uns als leuchtendes Beispiel in Erinnerung bleiben, nicht auf dem Boden winselnd und langsam verblutend.

Nur eine große Ausnahme macht The 800 dabei, ziemlich genau in der Mitte des Films, als die Schlacht beinahe verloren scheint und sich eine Reihe Verteidiger, Lemmingen gleich, mit scharfen Granaten um die Schultern geschnürt aus dem Lagerhaus stürzt, um die Invasoren vom Durchbrechen einer Mauer abzuhalten. Die Musik spielt nochmal extra laut auf, Menschen explodieren in meterhohen Blutfontänen – und am anderen Flussufer heißt es: „Wären alle Chinesen so mutig, wären sie nie angegriffen worden.“ Es ist nicht nur der dramaturgische Höhe-, sondern auch der tonale Kipppunkt des Films, ab dem der Pathos Überhand nimmt. Und etwa in einer Sequenz resultiert, in der eine Fahne auf dem Dach des Lagerhauses gehisst werden soll, wohlwissend, dass dies die Japaner zum Einsatz von schwerem Geschütz provozieren werde. Eben jene Szene war wohl auch ein Grund dafür, dass der Film vor seiner 2019er-Premiere beim Shanghai International Film Festival (offiziell aufgrund technischer Schwierigkeiten) zurückgezogen und letztlich um 13 Minuten gekürzt wurde: Bei der Flagge handelt es sich nämlich nicht um die der Volksrepublik China, sondern um die der Republik China (die Nationalflagge Taiwans), die einen gelinde gesagt schwierigen politischen Status auf dem Festland hat. Und die in The 800 letztlich, obwohl sie erzählerisch derart relevant ist, lediglich aus der Ferne und/oder unscharf im Bild auftaucht.

Derart agitatorische bis propagandistische Aspekte des Films (auch etwa der, dass es keinen klaren Protagonisten gibt – das Heldentum darf eben nicht individualisiert werden, sondern muss im Kollektiv aufgehen) lassen sich natürlich beiseite schieben, um sich auf die – um es nochmals hervorzuheben – herausragenden ästhetischen Qualitäten von The 800 einzulassen. Zumal unzählige Hollywood-Produktionen mit Kriegsszenario mindestens genauso pathetisch-manipulativ agieren und die Schrecken des Krieges, wie auch dieser Film, einzig durch Bilder von Sterbenden und Leichenbergen visualisieren, im politischen Subtext den Krieg jedoch zum notwendigen Mittel für einen gerechten Zweck stilisieren. The 800 allerdings kommt nun eine besondere Stellung in der Filmgeschichte zu: Corona und der Dauerschließung von Kinos im Westen ist es geschuldet, dass er 2020 an der Spitze der weltweiten Box-Office-Charts stand. Angesichts der Tatsache, dass ein staatlich regulierter respektive zensierter Film diese Spitzenposition erreichen konnte, sollte man vor der offenkundigen, plakativen Agenda dieses Films nicht die Augen verschließen.

The 800 (2020)

1937 stellen sich chinesische Soldaten in der Schlacht um Shanghai der japanischen Übermacht: Ihr Anführer beziffert sie auf 800. Tagelang kämpfen die Männer — eine Ansammlung aus Deserteuren, einfachen Bauern und Kriminellen — ein erbittertes Rückzugsgefecht gegen die Invasoren, bei dem sie sich in einem alten Lagerhaus verschanzen. Sie haben nur ein Ziel: Die chinesische Metropole vor der Übernahme durch den Feind zu beschützen.
 

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