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Für „Stillstand“ hat Nikolaus Geyrhalter die Corona-Pandemie in Wien in den Jahren 2020 und 21 detailliert dokumentiert – mit beeindruckenden Bildern und gemächlichem Tempo, aber doch höchst einnehmend.

Stillstand (2023)

Eine Filmkritik von Christian Neffe

Die Pandemie in 130 Minuten

Der Titel von Nikolaus Geyrhalters neuem Film ist nicht ganz treffend gewählt. Denn obwohl die ersten Minuten eine Stadt, ein Land im vermeintlichen Stillstand zeigen, die Straßen völlig leergefegt, so passiert hinter den Kulissen doch eine ganze Menge: Vorbereitungen für die große Krise nämlich. Und nach diesem ruhigen Beginn ist auch im Filmbild umso mehr in Bewegung. In der Wirtschaft, in der Politik, in der Gesellschaft. Von Stillstand kann keine Rede sein, sondern – das macht diese 130-minütige Doku deutlich – vielmehr von einer unheimlich dynamischen Kette von Ereignissen, die wir alle hautnah miterlebt haben: der Corona-Pandemie.

Anfangs habe er gar nicht geplant, einen Film zu machen, erzählt der Regisseur und Kameramann im Gespräch auf dem Dok Leipzig, wo Stillstand Premiere feierte. Erst später sei diese Idee gereift, stattdessen sei er zunächst von einem Archivierungs-Gedanken angetrieben worden. In einer Zeit, in der in der digitalen Sphäre praktisch nichts undokumentiert und -archiviert bleibt, wäre das streng genommen wohl nicht nötig gewesen. Allerdings vermag es kaum jemand anderes, das so ästhetisch zu tun wie der Österreicher.

Schon in seinen vorherigen Werken, etwa Pripyat (1999), Erde (2019) oder Matter out of Place (2022), stellte Geyrhalter seine Kamera auf und hielt mit dem Weitwinkelobjektiv scheinbar einfach nur drauf. Sekundenlange, zentralperspektivische Standbilder, die symmetrische, bisweilen geradezu monumentale Tableaus erzeugen, sind das Markenzeichen des gebürtigen Wieners. Und sind es auch in Stillstand.

Auf einen Off-Kommentar verzichtet Geyrhalter gänzlich, immer wieder aber schiebt er kurze Interviews zwischen seine Natur- und (viel häufiger) Stadt- und Innenraumaufnahmen. So kommen unter anderem eine Lehrerin, die Besitzer eines Blumenladens, ein Flughafenmitarbeiter, die Leiterin einer Intensivstation, der Gesundheitsstadtrat von Wien und der Geschäftsführer des Gartenbaukinos zu Wort, lassen ihren Gedanken zur gegenwärtigen Situation freien Lauf oder erklären schlicht und nüchtern, was sie da gerade tun und wie gerade die Lage in den Krankenhäusern ist. 

Einige dieser Personen interviewt Geyrhalter wiederholt, und ebenso wie ihre Worte, ihre Gefühlslagen ändert sich auch die Gesamtsituation draußen auf den Straßen. Sind die anfangs noch völlig leer, geht nach der milden ersten Welle das Leben wieder einen halbwegs normalen Gang, Maskenträger:innen überall. Bis die zweite und dritte Welle mit voller Wucht zuschlagen, die Kliniken überfüllt sind, der damalige Bundeskanzler Sebastian Kurz weitere Lockdowns verkündet, Stäbchen in Nasen gesteckt und Testflüssigkeiten gegurgelt werden. Und auch die Proteste zunehmend lauter und aggressiver werden.

Geyrhalter und sein Editor Gernot Grassl finden dabei einen perfekten Rhythmus, was sowohl die Länge der einzelnen Aufnahmen als auch deren Gesamtkomposition betrifft. Durch den steten Wechsel aus nüchternen, distanzierten und höchst präzisen „Fly on the Wall“-Beobachtungen und Interviews entfaltet Stillstand trotz gemächlichen Tempos einen einnehmenden Erzählfluss, der die knapp zwei Jahre – die Aufnahmen entstanden zwischen Frühjahr 2020 und Ende 2021 – wie eine Reise durch eine geradezu surreale Epoche wirken lässt, die inzwischen so fern scheint, aber doch erst einige Monate her ist.

Tatsächlich kann man Stillstand bescheinigen, so etwas wie die ultimative Pandemie-Doku zu sein, zumindest was das Soziale betrifft, und freilich nur auf eine mitteleuropäische Großstadt bezogen, denn Geyrhalter bleibt gänzlich in Wien. Und dennoch: Will man seinen Kindern oder Enkelkindern in einigen Jahren oder Jahrzehnten zeigen, was das damals eigentlich war, dieses Corona, und was es mit uns gemacht hat – Stillstand wäre die perfekte Wahl.

Gesehen auf dem DOK Leipzig 2023.

Stillstand (2023)

Entleerte Räume, Rettungsversuche, Erklärungsmuster, Lernprozesse – und vor allem Menschen, die unermüdlich daran arbeiten, die Grundversorgung aller sicher zu stellen. „Stillstand“ dokumentiert über zwei Jahre hinweg am Beispiel der Millionenstadt Wien die Krise: Mit Covid 19 trifft im Frühjahr 2020 eine globale Pandemie in nie dagewesener Wucht die Menschheit mit all ihren vermeintlichen Sicherheiten und scheinbar perfekten Routinen.

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