Log Line

Mittelfinger in die Kamera: Kompromisslos zeigt Nora El Hourch die unterschiedlichen Lebensrealitäten von drei jungen Frauen in der Anarchie des Erwachsenwerdens.

Sisterhood (2023)

Eine Filmkritik von Niklas Michels

Ein feministischer Mittelfinger

Standing Ovation bei der Deutschlandpremiere in Heidelberg. Ein Film, der 10 Jahre in der Entwicklung war, trifft einen Nerv. Sexuelle Gewalt, Migration, alles im Geflecht des Erwachsenwerdens – all das schwingt bei „Sisterhood“ (HML Pussy) nicht zwischen den Zeilen, sondern wird in Großbuchstaben auf die Leinwand gestanzt. Um einen Übergriff gegenüber ihrer Freundin aufzudecken, postet Amina (Leah Aubert) ein Video der Tat auf Social-Media. Während sie darin den Beginn eines Protestes sieht, entzweit sich darüber ihre Freundesgruppe.

Die anarchistische Freiheit der Schulzeit wird zum Albtraum. Was Emanzipation anmuten lässt, hat Fallhöhe – die Verzweiflung in den Augen der Mädchen ist echt. Praktika, Familienfeiern und die Auswahl einer guten Schule wirken so unsinnig in dem dichten Gestrüpp aus Problemen, dass die Eltern-Figuren zu übergroßen Moralapostel werden. Schnitt zurück zur Straße – die Haltung etwas gebückter. Lehrerstimmen gibt es nur aus dem Off. Was als energetischer Urban Jungle bekommen hat, wird Schritt für Schritt immer grauer.

Sisterhood – so der internationale Titel. Thematisch – sicherlich passend. In seiner Derbheit beschreibt der Originalname HLM Pussy den Film aber besser. HLM (Habitation à loyer modéré) referenziert auf den französischen Sozialwohnungsbau. HLM Pussy wird später der Hashtag unter dem das Video und die weiteren Protest-Clips geteilt werden sollen. Freiwillig war der Namenswechsel nicht: Für manche Märkte wird Sisterhood möglicherweise besser funktionieren. HLM Pussy hat fraglos mehr Kraft.

Bunte Farben, die nie zu grell sind, wackelige Kamera und schnelle Schnitte. Nicht zuletzt die französische Rap-Musik, von der man nie weiß, ob sie gerade extradiegetisch ist oder jemand mit Musikbox vorbeiläuft, führt zur Musikvideo-Ästhetik. Reißt man manche Szenen aus dem Kontext, könnte es sich allerdings auch um Nike-Werbeclips handeln. Gelegentlich ist HLM Pussy zu konsumierbar. Spätestens wenn der Film die unsichtbare Macht von Klasse in den Lebensrealitäten der Mädchen sichtbar macht, verpuffen aber auch diese Kritikpunkte.

HLM Pussy ist ein Stoß, der Gegebenheiten vom Sockel holt. Hohe Kunst liegt als Pop-Kultur am Boden. Die Mona Lisa sei hässlich, wird in den Klassenraum gerufen. Nichts ist sicher und alles lässt sich aneignen. Pop-Kultur wird auf der Haut getragen und Nora El Hourch bringt die Sprache der Straße auf die Leinwand.

Selbst #MeToo ist in dieser Welt lediglich ein Verb im Sprachgebrauch geworden, das an Stärke verloren hat – mit jeder Verwendung stumpft es weiter ab. Ebenso ist das Digitale ein integraler Bestandteil der Welt. Medien fließen ineinander, bis sie zur Collage werden.

Die drei – überwiegend Laien – Schauspielerinnen Leah Aubert, Médina Diarra und Salma Takaline tragen souverän das Gewicht einer ganzen Generation auf ihren Schultern. Im Moment des sexuellen Übergriffs hält sich der Film aus Respekt die Augen zu: Die Leinwand wird schwarz. Dann ein Gedicht: „In der schwarzen Nacht, sind wir schwarze Ameisen“. Unsichtbar.

Nach der Schwärze kommt ein Blick auf das Geschehen vom Opfer selbst, die scheinbar von außen auf die Tat schaut, als dritte Person. Eine solche Inszenierung konnte man zuletzt in Un Amor (2023) der spanischen Regisseurin Isabel Coixet sehen: Im Moment des Traumas wird die weibliche Perspektive zu einer Entfremdung von sich selbst.

Eine große Tragödie in HLM Pussy ist die Abwesenheit eines „Anderen“, dessen Rolle im vorbehaltlosen Zuhören bestünde. Weder Elternfiguren, noch Klassenkameraden leisten dies. HLM Pussy findet das Internet – die sozialen Medien – als Ersatz. Immer höher steigende Like-Zahlen – Leute scheinen zuzuhören. „Das war kein klares Nein“ und „Ihr seid in der #MeToo-Matrix gefangen“, wird der Mädchen-Gruppe in den Kommentaren entgegengeworfen. Ein „Anderer“ der einfach zuhört, bleibt nicht existent. Alles wird immer bereits kommentiert sein.

Der einzige Ausweg aus den erdrückenden Lebensrealitäten der jungen Frauen ist ihre Freundschaft. Die Familie als kleinste Einheit wird aufgelöst. Wahlfamilie („Chosen-Family“) als queeres Konzept, wird zum Gegenmittel der Klassenungleichheit – als Gruppe auf der Straße sieht niemand die unterschiedlichen Elternhäuser der Mädchen. Polizei und Zivilgesellschaft abseits der Bildschirme vermisst man indessen. Helfende Hände im Protest sind nur anhand von Likes und Kommentaren sichtbar. Die Straße als Ort des Protestes geht verloren. Das wirkt zunächst sicher kurzsichtig, ist aber die unbestreitbare neue mediale Wirklichkeit.

Auf der Straße riss man die Faust in die Luft. Nora El Hourch übersetzt diese Faust in einen Mittelfinger, lässt die Leinwand zum Affront werden. HLM Pussy vermeidet Rachegelüste à la Promising Young Woman (2020), sondern stellt die Opfer als Handlungsfähige in den Fokus. Sein eigentliches Potenzial erreicht der Film in den letzten Momenten. Dann, wenn im Appell alles Narrative aufgelöst wird – 3 Frauen, ein schwarzer Hintergrund und apodiktische Worte: „In der schwarzen Nacht, sind wir schwarze Ameisen. Wir werden gesehen werden.“ Eine Ansage.                                                                          

Sisterhood (2023)

Als Zineb Opfer eines sexuellen Übergriffs wird, beschließt sie mit ihren Freundinnen, den Täter durch ein Handyvideo zu überführen.  Als das Video viral geht, löst es eine schon bald nicht mehr kontrollierbare Kettenreaktion aus. 

  • Trailer
  • Bilder

Meinungen