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Als Drehbuchautor, Regisseur und Hauptdarsteller erzählt der Franzose Pascal Elbé in „Schmetterlinge im Ohr“ von einem Mann, der sich mit seiner Schwerhörigkeit auseinandersetzen muss.

Schmetterlinge im Ohr (2021)

Eine Filmkritik von Andreas Köhnemann

Coming of Middle Age

Zahlreiche Filme befassen sich mit dem Übergang ihrer Figuren in eine neue Lebensphase: Aus Kindern werden Jugendliche, aus Jugendlichen werden Erwachsene. Oft sind diese Prozesse äußerst schmerzhaft. Und natürlich hören diese Übergänge im Erwachsenenalter nicht einfach auf. Je älter die Figuren in den Filmen sind, desto stärker scheinen sie indes gegen die kommende Lebensphase anzukämpfen. So auch der Protagonist Antoine in der französischen Tragikomödie „Schmetterlinge im Ohr“, der als Mann in den frühen Fünfzigern die Alterserscheinungen seines Körpers zunächst zu ignorieren versucht.

Der Geschichtslehrer Antoine, gespielt von Drehbuchautor und Regisseur Pascal Elbé, nimmt weder die Worte seiner Freundin Florence (Julia Faure) noch das lange und laute Klingeln seines Weckers oder gar den Feueralarm in der Schule wahr – was alsbald dazu führt, dass Florence das Weite sucht und es zu diversen Beschwerden in Antoines Umfeld kommt. Als er sich daraufhin widerwillig einem Hörtest unterzieht, stellt sich heraus, dass Antoine schwerhörig ist und dringend ein Hörgerät benötigt. Das passt allerdings überhaupt nicht zu seinem Selbstbild, da nach Antoines Auffassung doch nur alte Leute auf so etwas angewiesen sind.

Der Einsatz des Geräts eröffnet Antoine schließlich eine völlig neue (Klang-)Welt, hat aber auch spürbare Schattenseiten. Obendrein versucht Antoine weiterhin, sein Handicap vor anderen zu verheimlichen – nicht nur vor seinen oftmals irritierten Kolleg:innen, sondern auch vor Claire (Sandrine Kiberlain), die zusammen mit ihrer kleinen Tochter Violette (Manon Lemoine) vorübergehend in die benachbarte Wohnung zu ihrer Schwester Léna (Valérie Donzelli) und deren Mann Julien (Antoine Gouy) gezogen ist, um den Tod ihres Mannes zu verarbeiten.

Pascal Elbé, Jahrgang 1967, ließ in seine dritte Regiearbeit eigene Erfahrungen mit seiner zunehmenden Schwerhörigkeit und dem Umgang damit einfließen. Schmetterlinge im Ohr ist ein Film, dem es gelingt, in rund 90 Minuten einen einnehmenden Kosmos zu erschaffen, bevölkert von kantigen Charakteren, die gerne mal aneinander vorbeireden und alle auf ihre individuelle Art und Weise im Chaos des Alltags verstrickt und verheddert sind. Das Skript und die Inszenierung tippen viele biografische Hintergründe, Beziehungen und Konflikte nur leicht an; dennoch entsteht dabei ein stimmiges Bild. Etwa wenn Antoine und seine Schwester Jeanne (Emmanuelle Devos) ihre demenzkranke, verwitwete Mutter Angèle (Marthe Villalonga) in deren Haus am Strand besuchen und über den verstorbenen Vater beziehungsweise Ehemann gesprochen wird. Auch dieser konnte nicht zuhören – ohne im medizinischen Sinne schwerhörig zu sein. Die Zeichnung der Figuren mutet angenehm mühelos an: Hier geht es nicht darum, Eigenschaften und Informationen pflichtschuldig in den Bildern und Dialogen unterzubringen, sondern mit feinem Gespür Interaktionen zwischen Personen (mit sämtlichem Ballast, den diese mit sich herumschleppen) einzufangen.

Die Lebenssituation von Claire, der vorübergehenden neuen Nachbarin von Antoine, wird ebenfalls treffend erfasst. Ihre Tochter Violette will seit dem Tod des Vaters nicht mehr sprechen – und auch Claire hat sich aus der Welt zurückgezogen. Schön ist, wie sich Antoine den beiden auf ganz unterschiedlichem Wege annähert. Während sich Antoine und das stille Kind gerade deshalb so gut verstehen, weil zwischen ihnen keine Worte vonnöten sind, sprühen zwischen Antoine und Claire die Dialogfunken in Ping-Pong-Manier: Vor der Romantik steht die Empörung, eine wilde Kommunikation voller Missverständnisse und kleiner Malicen.

Antoine muss erst einmal lernen, dass das Leben zuweilen zu laut ist – und es irgendwie klappen muss, sich damit zu arrangieren. Auf der Tonebene wird dies nachvollziehbar, wenn Antoine mit seinem Hörgerät etwa plötzlich allzu deutlich wahrnimmt, wie seine Kollegin Juanita (Claudia Tagbo) in ihrer Knistertüte kramt und geräuschvoll Chips isst, oder wenn er mit dem Lärm des Straßenverkehrs konfrontiert wird. Schmetterlinge im Ohr zeigt, wie der Protagonist sowohl sich selbst als auch die Welt als Chaos-Ort allmählich akzeptiert, statt sich gänzlich zu verschließen.

Schmetterlinge im Ohr (2021)

Antoine, ein gutaussehender Geschichtslehrer in seinen frühen Fünfzigern, ist Ignorant der Extraklasse, vor allem wenn es um Symptome des eigenen Alterns geht: Wortmeldungen seiner Schüler oder die Gefühlslage seiner Freundin – geht ihn nichts an. Sogar das morgendliche Schellen seines Weckers ignoriert er. Seine neue Nachbarin Claire treibt er mit ohrenbetäubendem Lärm in den Wahnsinn. Ihre Wutausbrüche perlen an Antoine gnadenlos ab – wie alles in dieser Welt. Erst als er in der Schule auch den Feueralarm ignoriert, ist Antoine gezwungen, sich der demütigenden Tatsache zu stellen: Er ist so gut wie taub. Und das im besten Alter! Mit dem Einsatz von Hörgeräten eröffnet sich ihm bald eine neue Welt, aber die bringt nicht nur Freude. Dieses Accessoire der Alten passt einfach nicht zu seinem Selbstverständnis als Mann. Noch schlimmer ist für ihn, dass er plötzlich alles mitbekommt, was er sonst entspannt ausblenden konnte. Seine demente Mutter, seine überforderte Schwester, die von ihm jahrelang brüskierte Lehrerschaft – alles prasselt nun ungefiltert auf ihn ein. Nur ein einziger Mensch bedrängt ihn nicht: Violette, die kleine Tochter Claires, die seit dem Tod ihres Vaters nicht mehr spricht. Plötzlich nimmt er gegen seine Natur Anteil an anderen. Mehr noch: er verliebt sich in ihre Mutter. Aber Hörgeräte sind kein Garant für gute Verständigung. Denn die will gelernt sein…

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