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In „Un silence“ zeigt Joachim Lafosse eine Familie, die unter Lügen und Verleugnungen begraben ist – bis der Sohn eine rabiate Verzweiflungstat begeht.

Ein Schweigen (2023)

Eine Filmkritik von Andreas Köhnemann

Die Mitschuld der Schweigenden

Der belgische Filmemacher Joachim Lafosse (Jahrgang 1975) hat schon oft gezeigt, dass er in seinen Werken mit sehr genauem Blick auf Familiendynamiken zu schauen vermag. In „Die Ökonomie der Liebe“ (2016) begleitete er ein Paar mit zwei Kindern, das kurz vor der Scheidung steht. In „Continuer“ (2018) konzentrierte er sich auf ein Mutter-Sohn-Duo, das sich auf zwei Pferden durch die raue Landschaft von Kirgisistan begibt. Und in „Die Ruhelosen“ (2021) ließ er sich von eigenen Erfahrungen als Kind inspirieren und schilderte, wie die Eltern eines kleinen Sohnes versuchen, mit der bipolaren Störung des Ehemanns zurechtzukommen.

Auch in Un silence steht eine Familie im Mittelpunkt. Zunächst wirken die Beziehungen zwischen den einzelnen Mitgliedern jedoch äußerst undurchsichtig. Es ist nicht klar, was hier vorgefallen ist und welche Rollen die Figuren in dem Geschehen einnehmen. Wir sehen Astrid Schaar (Emmanuelle Devos) in ihrem Auto durch die Stadt fahren; die Kamera von Jean-François Hensgens ist auf der hinteren Bank des Wagens platziert. Nur durch den Rückspiegel können wir die Augenpartie der Frau sehen – und erkennen, dass sie nervös wirkt. Kurz darauf wird sie von einer Ermittlerin befragt. Es geht um eine Durchsuchung in ihrem Haus. Und um einen Vorfall zwischen Vater und (Adoptiv-)Sohn, dem medial überaus präsenten Juristen François (Daniel Auteuil) und dem Schüler Raphael (Matthieu Galoux).

„Ich habe nie etwas gesagt“, meint Astrid – und spricht damit einen der zentralen Sätze des Drehbuchs aus, das Lafosse zusammen mit Chloé Duponchelle und Paul Ismaël geschrieben hat. Der Plot basiert auf dem Fall um den Lütticher Rechtsanwalt Victor Hissel, der unter anderem die Familie einer entführten und getöteten Jugendlichen vertreten hat. Wer mit der Geschichte vertraut ist, weiß, dass bei der erwähnten Hausdurchsuchung von der Polizei kinderpornografisches Material gefunden wurde – und dass Hissel später von seinem eigenen Sohn niedergestochen wurde.

Der Film arbeitet im Laufe der Handlung, die uns als lange Rückblende vermittelt wird, die Ereignisse bis zum Angriff des Sohns auf den Vater auf. Die Inszenierung setzt dabei nicht, wie etwa bei Die Ruhelosen, auf Nähe, sondern lässt in ihrer Bildsprache und Darstellung des Zwischenmenschlichen eine spürbare Kühle und Strenge herrschen. Am ehesten erinnert Un silence dadurch an Lafosses Frühwerk Unsere Kinder (2012), das auf dem Leben der mehrfachen Kindesmörderin Geneviève Lhermitte beruhte. In beiden Fällen geht es weniger darum, juristische Details dramaturgisch zu entwirren, sondern das Verhalten der Beteiligten zu beobachten. Wie kompensiert und kaschiert François seine Taten? Welches Maß an Selbstreflexion lässt sich bei ihm finden? Und wie begegnet Astrid der Lage? „Wir sind alle drüber weg“, sagt sie, als von einem gravierenden Vorfall aus der (nicht allzu fernen) Vergangenheit die Rede ist.

Doch nicht nur Caroline (Louise Chevillotte), die Tochter des Ehepaars, die aus eigener Entscheidung nicht mehr bei der Familie wohnt, erwartet von der Mutter eine Reaktion auf all die Dinge, die sich nicht entschuldigen lassen – auch Raphael will irgendwann unmissverständlich wissen: „Was ist los?“ Das Werk schildert eine Investigation, in deren Zentrum mit François und Astrid zwei Menschen stehen, die seit etlichen Jahren ganz automatisch alles beiseite schieben, was zu dicht an die Wahrheit herankommt. Wenn Mutter und Sohn in einer Sequenz in einem seltenen Moment der Ausgelassenheit miteinander in der nächtlichen Küche tanzen, wird der Mangel an Wärme, Offenheit und Ehrlichkeit in den übrigen Szenen nur umso eklatanter.

In einer längeren Passage, in der François, Astrid und Raphael in unterschiedlichen Räumen nach der Hausdurchsuchung verhört und mit dem belastenden Beweismaterial konfrontiert werden, baut Lafosse versiert Spannung auf. Auch hier ist es weniger eine konventionelle Krimi-Spannung, die von den Fragen lebt, wer wann was warum getan hat (und wie lange es wohl noch dauern wird, bis alles herauskommt), als vielmehr ein präzise erfasstes Unbehagen, das die gesamte Situation prägt und vom titelgebenden (Ver-)Schweigen auf fatale Weise aufrechterhalten wird.

Gesehen beim Internationalen Filmfestival von San Sebastián.

Ein Schweigen (2023)

25 Jahre dauerte das Schweigen von Astrid, der Ehefrau eines anerkannten Rechtsanwaltes. Als sich plötzlich ihre Kinder auf die Suche nach Gerechtigkeit machen, beginnt der Familienfrieden zu wackeln. 

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