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Eine junge Frau manövriert sich durch die Welt der illegalen Stunt-Motorradfahrten. Ein Debütfilm mit herausragendem Rhythmusgefühl und einer schwer lesbaren, aber faszinierenden Hauptfigur.

Rodeo (2022)

Eine Filmkritik von Mathis Raabe

Die junge Frau und der Tod

In unserer extradiegetischen, langweilig unfilmischen Welt sind auch Motorrad-Gangs eher uncool: die einen sind Wochenendbeschäftigung für Familienväter, die in die Jahre gekommene Rockmusik hören und daran eine sehr kleinbürgerliche Vorstellung von Freiheit heften. Andere sind gleich nationalistisch und gewaltbereit. Im Kino dagegen sind Motorrad-Gangs sehr cool. Schon seit Ende der 60er-Jahre wimmeln sie dort, tragen Lederjacken, saufen und prügeln sich, aber halt auf coole Art und Weise. Die Serie „Sons of Anarchy“ hat es sogar in diesem Jahrtausend noch einmal geschafft, alte Motive und Männlichkeitsbilder populär zu machen. Was man aber selten sieht: einen Biker-Film, den man gendern kann, der gänzlich neue Motive findet und der das Lebensgefühl junger Menschen am Rand der Gesellschaft einfängt – nicht zu Zeiten von Mods und Rockern, sondern hier und jetzt. „Rodeo“ ist so ein Biker*innen-Film. Er ist das Langspieldebüt der französischen Regisseurin Lola Quivoron.

Rodeo spielt er in der Welt des Dirtbiking. In diesem Fall sind damit illegale Stunt-Fahrten gemeint, ausgeführt von Banlieu-Kids, die lieber ein Bandana als einen Helm tragen und Drill und Afrobeats hören statt Rockmusik. Lola Quivoron verwendet diese Welt nicht nur als ein interessantes Setting, mit dem man dann seinen Coming-of-Age-Film im Programmheft von anderen Coming-of-Age-Filmen abgrenzen kann. Ihr Film lebt in dieser Welt, widmet den Stunt-Fahrten lange Sequenzen, arbeitet ständig mit Feuer und Rauch als visuelles Motiv und verwendet sogar Motorradteile als Metaphern – der Kolben, lernt man, ist das Herz eines Motorrads. Es ist ein treibender Film mit einer getriebenen Hauptfigur.

Julia (Julie Ledru) ist schwer zu lesen. Gerade deshalb klebt die Kamera oft ganz nah an ihrem Gesicht. Julia klaut ihre Motorräder. Sie erscheint zu Verkaufsterminen und nutzt dann das Überlegenheitsgefühl der Männer aus, um beim Testen der Maschinen einfach wegzufahren. Sie wird in eine Gruppe von Dirtbikern und in deren Werkstatt aufgenommen. Auch dort ist sie die einzige Frau, was einigen der Jungs nicht gefällt. Bald nutzt die Gruppe aber ihr Talent, denn Julias beste Stunts sind keine Wheelies, sondern ihre Diebstähle. Auch die bringen Adrenalin. Aufgeregt arbeitet sie an einem riskanten Plan, um mehrere Motorräder aus einem fahrenden LKW zu entwenden. Domino, der Chef der Bande, gibt Anweisungen aus dem Knast.

„Ich wurde mit einem Motorrad zwischen den Beinen geboren“, ist ein toller Satz, den Julia einmal sagt. Sie wirkt auch nur auf dem Motorrad so richtig glücklich. An Freundschaft oder Liebe (einer der Typen steht auf sie) ist sie kaum interessiert. Lediglich zu Dominos Frau Ophélie (Antonia Buresi) und ihrem Kind, denen sie Einkäufe vorbeibringt, entwickelt sie eine Bindung. Dabei bekommt sie auch mit, dass der Bandenchef seine Frau finanziell abhängig gemacht hat, damit sie sich während der Haft nicht von ihm trennt. Die Solidarität mit Ophélie lässt sie schließlich ein großes Opfer bringen.

Eine Adrenalinsucht ist nicht mit einer Todessehnsucht gleichzusetzen. Auch der Tod ist aber ein Thema des Films und scheint Julia besonders anzuziehen. Nachdem ein Mitglied der Gruppe bei einem Unfall stirbt, hat sie von dem Toten feurig inszenierte Träume. Danach wacht sie mit selbst zugefügten Verletzungen auf. Sie schläft auch im Bett des Toten, obwohl es ihr verboten wurde. In einer Szene, die Julia selten glücklich zeigt, obwohl sie gerade weder auf einem Motorrad sitzt noch einen Überfall plant, tanzt sie an einem Lagerfeuer zu Look At Me, einem aggressiv übersteuernden Hit des Rappers XXXTentacion. Dieser war ein ebenso problematischer wie tragischer Künstler. Unter anderem wegen gefährlicher Körperverletzung seiner Ex-Partnerin inhaftiert, war er gleichzeitig jemand, der in seiner Musik auf einzigartige Weise zwischen Aggression und Zerbrechlichkeit schwankte, von Depressionen und Suchtproblemen erzählte und dann im Alter von nur 20 Jahren erschossen wurde. Seine Musik ist voller Todessehnsucht, die auch in der Lagerfeuerszene von Rodeo mitschwingt. Es ist der einzige englischsprachige Musikeinsatz des Films.

Rodeo ist ein Debütfilm mit herausragendem Rhythmusgefühl und einer schwer lesbaren, aber faszinierenden Hauptfigur. Der dramatische Höhepunkt ist eine Heist-Szene, der große Überfall. Hier kann die Identifikation mit Julia für viele Zuschauenden überraschend in Flammen aufgehen. Rodeo ist aber kein Film, der seine Hauptfigur erklärt. Er bleibt nur immer ganz nah an ihr dran, damit man sie sich selbst erklären kann. Dann wird man feststellen, dass der Film auch dann, wenn der Reifengummi am Teer klebt, noch viel zu erzählen hat.

Rodeo (2022)

Der Film handelt von Motorradfahrern und einer Frau, die in der Bikerclique Anschluss sucht – und sich durchbeißen muss, um in dieser vor Männerschweiß triefenden Welt einen Platz zu bekommen.

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