Log Line

Eine Frau tötet den gewalttätigen Ehemann ihrer Jugendliebe. Gemeinsam fliehen sie vor der Staatsgewalt. Ihre Reise führt sie tief in die Vergangenheit und in Irrungen und Wirrungen unerwiderter Liebe. Ein Roadmovie ohne Ziel.

Ride or Die (2021)

Eine Filmkritik von Lucas Barwenczik

Tausend falsche Abfahrten zum Ziel

Ryuichi Hirokis „Ride or Die“ ist ein widersprüchlicher Film: Je umfassender er sich verliert, desto mehr ist er bei sich selbst. Wo sich alle Handlung in Sonnenschein, Musik und Lachen auflöst, ist er wahrhaftig; wo Blut und Schatten an den Bildern kleben, wirkt er wie ein schmerzlicher Traum. Ein Roadmovie ohne Ziel, in dem die Reise schnell zum Selbstzweck wird. Bewegung, die eine eigene Zeit erfindet, die kaum noch etwas mit der bekannten zu tun hat. Auf einer Straße nach Nirgendwo, die nicht Bild für Hoffnungslosigkeit, sondern Ausdruck nie verglühender Sehnsucht ist.  

Auf dem Papier klingt die Geschichte nach Bahnhofsbuchhandlung, nach etwas schmierigem Pulp. Blut spritzt auf einen nackten Körper, ein anderer ist von Blessuren übersäht, gemeinsam gebrandmarkt entflieht man der Welt. Rei Nagaswa (Kiko Mizuhara) lebt mit ihrer Partnerin ein gewöhnliches Leben, bis sie eines Tages ein Anruf erreicht: Am anderen Ende der Leitung ist ihre frühere Schulkameradin Nanae Shinoda (Honami Satô). Zehn Jahre lang haben sie einander nicht gesehen, doch Rei lässt sofort alles stehen und liegen – Nanae war ihre große, aber unerreichbare Jugendliebe. Die lockt sie nun mit Nähe und Zuneigung, doch dafür soll Rei ihren gewalttätigen Ehemann töten. Dann fliehen diese japanischen Thelma & Louise in ihre eigene Vergangenheit und in eine Version des Lebens, das sie immer schon hätten führen können.

Ride or Die ist selten Genrekino. Vertraute Plot-Stationen werden irgendwann angesteuert, doch wirken zwischen Leerlauf und reiner Logistik ein wenig verloren. Alles dreht sich um persönliche Zweifel, um Lebensentwürfe und verzweigte Pfade auf dem Weg zum Glück. Vergleicht man den Film mit Hirokis vorhergehendem, dem Drama It’s Boring Here, Pick Me Up, dann unterscheidet sie nur ein wenig Mord und Totschlag. Natürlich sind derartige Erfahrungen prägend und schmerzhaft, doch auch sie sind nur Kristallisationspunkte für bereits bestehende Fragen.

Hin und wieder werden kurze Szenen über die Polizisten eingestreut, die Rei und Nanae verfolgen. Doch obwohl die beiden auf der Flucht vor der Staatsgewalt sind, finden sie mühelos die Zeit für gemeinsame Restaurantbesuche. Sie spielen ein Brettspiel oder machen sich Gedanken über mögliche Todesarten, wenn alles missglückt. (Als Wasserleiche zu enden erscheint ihnen wenig erstrebenswert, verbrennen klingt schon besser.) Sie können in den Häusern ihrer Jugend der eigenen Vergangenheit nachspüren, all die Orte besuchen, die sie geprägt haben. So wird auch die zunächst einseitig wirkende Beziehung der beiden zunehmend komplexer. Was sie füreinander eigentlich sind, ist schwer zu beschreiben: „Wir sind weder Freunde noch Liebende“, heißt es einmal. Einen festen Begriff gibt es nicht für diese seltsame Gemengelage aus Lüsten und Zwängen, aus einenden und trennenden Erfahrungen.

Auf den ersten Blick scheinen die Machtverhältnisse klar verteilt: In ihrer blinden Liebe ist Rei ihrer Angebeteten treu ergeben. Doch Rei kommt aus wohlhabenden Verhältnissen, während Nanae immer mit ihrer Armut zu kämpfen hatte. Einmal, als sie sich die Schulgebühren kaum noch leisten konnte, hat Rei sogar versucht, sie zu kaufen. Nicht direkt, als unmittelbare Transaktion, sondern als eine Art kuriose Wette: Sie leiht ihr Geld. Wenn sie es innerhalb von fünf Jahren nicht zurückzahlen kann, muss sie sich ihr hingeben.

Diese Geschichte erzählt also durchaus von dem, was man eine toxische Beziehung nennen würde. Eine Amour fou. Rei ist obsessiv und besitzergreifend, Nanae manipulativ. Da ist ein unsichtbares Gift, das alles durchdringt. Woher es kommt, ist nicht sofort ersichtlich. Von überall und nirgendwo. Von grausamen Patriarchen und spätkapitalistischen Zwängen, von homophoben Müttern und aus den tiefsten Abgründen in ihnen selbst. Es fließt aus der Angst vor der Einsamkeit und aus der zunehmend verzweifelten Suche nach Sinn und einem Platz in der Welt. Sie entkommen sich selbst nicht, und auch alle anderen Zwänge haften an ihnen wie gierige Fangarme.

Frei sind sie nur in den wenigen Momenten, die sie aus allen Zusammenhängen lösen. Immer wieder inszeniert Hiroki Momente, in denen kaum etwas passiert. Das Auto gleitet über die Straße, nostalgische Popmusik oder Waberklimpern aus der Musikbibliothek überschwemmt den Augenblick. (Die Musik passt selten in den Film, aber scheinbar gut ins Budget.) Diese Szenen sind immer ein wenig zu lang, um wirklich einem Zweck zu dienen. Es entsteht süßlicher Kitsch, der perfekt eine Innerlichkeit erfasst, die sich einem unerfüllbaren Wunsch hingibt. „Wollt ihr der Wirklichkeit entkommen?“, fragt ein aufdringlicher Mann Rei einmal. Sie muss gar nicht antworten. Das Roadmovie formt die Straße in der Regel zur Metapher für eine individuelle Entwicklung. In Ride or Die hingegen steht sie eher für die vergänglichen Momente des Glücks zwischen den düsteren Endpunkten der Existenz. Der Tod kann nie besiegt werden — nur vergessen. 

Die episodische Struktur ergibt keinen lückenlosen Fluss, sondern folgt der Logik ihrer Beziehung, ist also von Wendungen und Verschiebungen, von Abzweigungen und Engführungen bestimmt. Einmal zeichnet Nanae verschiedene Linien auf ein Blatt, ihre Endpunkte liegen verborgen und Rei soll einen wählen. Sie deckt einen Teil des Papiers auf und offenbart, dass alle Pfade in dieselbe Sackgasse führen. Ride or Die ist ein Film darüber, dass die Auswahl trotzdem nicht gleichgültig ist. 

Die Kamera erweist sich als Seismograph für all die kleinen Verschiebungen in der Beziehung. Sie fährt vorsichtig um die Ereignisse, sucht Nähe und Distanz. In der ersten Szene des Films zieht sie in einer langen Einstellung wie ein Raubtier durch einen Nachtclub, später drängt sie ganz distanzlos in rare Glücksmomente. So bleibt Ryuichi Hiroki auch mit dieser Manga-Adaption seinen Themen und Stilmitteln treu. Es liegt etwas Filigranes in diesen Bewegungen, selbst grobschlächtige Momente werden in sanfte Schwingungen versetzt. Wo Menschen sich anschreien wie im aggressivsten Melodram, bleibt immer das Gefühl, das Bild könnte jederzeit zerspringen.

Ride or Die (2021)

Rei hilft der Frau, in die sie seit Jahren verliebt ist, ihrem misshandelnden Ehemann zu entkommen. Während sie auf der Flucht sind, fangen ihre Gefühle füreinander Feuer.

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