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Autorin und Regisseurin Alice Wu konterkartiert in „Nur die halbe Geschichte“ diverse Coming-of-Age-Klischees mit einer zweiten Ebene. Trotzdem kann die Netflix-Produktion nicht jede narrative Falle umschiffen.

Nur die halbe Geschichte (2020)

Eine Filmkritik von Christian Neffe

Es ist kompliziert...

Die antiken Griechen glaubten einst, dass die Menschen in grauer Vorzeit vier Arme, vier Beine und zwei Gesichter besaßen – glückliche, vollständige Wesen. Dann jedoch griffen die Götter ein, spalteten die Menschen in zwei, aus Angst, sie könnten in ihrer Zufriedenheit ihre Ehrfurcht vor den Mächtigen verlieren. Seitdem wandeln sie durch die Welt, getrieben von Sehnsucht und der Suche nach ihrer anderen Hälfte. Dem also, was man Liebe nennt.

So erzählt es, ergänzt durch ein bedeutungsschweres Zitat von Plato, Ellie Chu (Leah Lewis) zu Beginn von Nur die halbe Geschichte, einer neuen, Netflix-exklusiven Coming-of-Age-Romanze. Weshalb die introvertierte Ellie mit diesem kontemplativen Monolog aufwartet, wird schnell deutlich: Auch sie ist auf der Suche nach ihrer zweiten Hälfte, ihrer großen Liebe. Wobei sie die eigentlich schon gefunden zu haben glaubt: Ihre Mitschülerin Aster (Alexxis Lemire) hat es ihr angetan. Das Problem: Aster ist dank ihres Aussehens und ihrer charmanten Art der Star der Schule, scheinbar unerreichbar also für die Außenseiterin. Aster ist zudem mit dem arroganten Proll Trig (Wolfgang Novogratz) leiert und hat überdies einen weiteren heimlichen Verehrer: den geistig eher schlichten Footballspieler Paul (Daniel Diemer).

Ellie wiederum ist eine nerdige Einzelgängerin, immigrierte einst aus China in die konservative Kleinstadt Sqauahamish und lebt dort seit dem Tod ihrer Mutter in einem alten Bahnhofsgebäude, zusammen mit ihrem apathischen Vater, der den Tag ausschließlich damit verbringt, zu kochen und Filmklassiker wie Casablanca schauen, vorgeblich um sein Englisch zu verbessern. Ellie träumt von einem Studium an einer renommierten Uni und verdient sich zu diesem Zweck ein kleines Zubrot, indem sie Aufsätze für ihre Mitschüler*innen schreibt. Eines Tages tritt Paul an sie heran, bittet um Hilfe bei einem Liebesbrief an Aster. Ellie nimmt nur zögerlich an: Einen einzigen Brief, mehr nicht, will sie in seinem Namen schreiben.

Natürlich wird es doch mehr als nur einer. Zunehmend fühlt sich Aster (im Glauben, die Schriftstücke stammen von Paul) von Ellies Ausführungen über die Eigenarten der Liebe, der Kunst, der Menschen angesprochen. Beide liefern sich ein intellektuelles Ping-Pong-Spiel, debattieren etwa über die fünf mutigen Pinselstriche, die es lediglich braucht, um aus einem guten Kunstwerk ein großartiges zu machen. Parallel dazu unterrichtet Ellie Paul in Smalltalk und Etikette, damit er Aster auch bei einem echten Date von sich begeistern kann. Auf diese Weise entsteht eine ungewöhnliche Freundschaft.

Die Außenseiterin, der Sportler, die Schönheitskönigin: Die drei zentralen Figuren von Nur die halbe Geschichte entsprechen zwar gängigen Stereotypen des Coming-of-Age-Genres, doch Autorin und Regisseurin Alice Wu (Saving Face) liegt viel daran, diese mit einer zweiten Ebene zu konterkarieren. Das reicht bei weitem nicht, um das Genre zu revolutionieren, sorgt aber für frischen Wind und ist ebenso luftig erzählt. Pathetische Momente, in denen die emotionale Brechstange angesetzt wird, sind selten, was nicht zuletzt dem vergleichsweise unauffälligen Soundtrack zu verdanken ist.

Leider wird dieser anfangs so positive Eindruck in der zweiten Hälfte zunehmend geschmälert, wenn dann doch das ein oder andere Genre-Klischee bedient wird. Da ist etwa der überraschende, ungewollte Kuss, der von einer dritten Person aus dem Dunkel heraus beobachtet wird, wodurch es zum Bruch einer Freundschaft kommt; oder der überwältigende Applaus, der unvermittelt aufbrandet, wenn Ellie bei einer Talentshow singt und danach bei der gesamten Schülerschaft plötzlich hoch im Kurs steht.

Gegen Ende gelingt es Nur die halbe Geschichte jedoch, zu seiner anfänglichen emotionalen Ambivalenz zurückzufinden. Der Glaube an das eine, prädestinierte menschliche Gegenstück, das zum persönlichen Glück fehlt, wird dorthin zurückverwiesen, wo er herkommt: in die Antike. Und die Reihe von Zitaten großer Philosophen, die den roten Faden des Films bilden, wird mit einer simplen, aber nicht weniger wahrhaftigen Erkenntnis von Ellie Chu abgeschlossen: „Liebe ist chaotisch und schrecklich und egoistisch… und mutig.“ Es gehören eben beide Hälften dazu.

Nur die halbe Geschichte (2020)

Die scheue Einserschülerin Ellie wird von dem netten, aber ungeschickten Sportler Paul gebeten, ihm dabei zu helfen, eine Mitschülerin für ihn zu gewinnen. Die ungewöhnliche Freundschaft der beiden wird kompliziert, als Ellie klar wird, dass sie in dasselbe Mädchen verliebt ist.

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Meinungen

Sarahnovb · 05.07.2021

Ich bin schockiert….

mimi · 03.05.2020

sehr einfühlsam