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In seinem neuen Dokumentarfilm nimmt der brasilianische Regisseur Kleber Mendonça Filho das Publikum mit auf eine Reise durch seine Heimatstadt Recife. In den Kinos seiner Heimat findet er das Versprechen auf eine andere Art von Öffentlichkeit.

Retratos Fantasmas (2023)

Eine Filmkritik von Lucas Barwenczik

Geister der Hoffnung

Für ihr langjähriges Projekt „Movie Theaters“ haben die französischen Fotografen Yves Marchand und Romain Meffre leerstehende, stellenweise zu Ruinen verfallene Kinopaläste in den USA fotografiert. Orte, an denen sich für sie „das Spektakel der Moderne“ abspielte, und mit denen auch ein Versprechen auf Schönheit und Glamour für die Massen verschwindet. Das Ende der „Oper der kleinen Leute“. Wahrscheinlich gibt es kaum eine Großstadt, durch die man nicht eine Tour zu all den ehemaligen Kinos machen könnte. Ab den Sechzigerjahren sind sie aus den Innenstädten verschwunden und in den Achtzigern in Multiplex-Riesen aufgegangen. Im Stadtbild fällt ihre Abwesenheit oft nicht auf, die Räume werden dann eben von Bekleidungsgeschäften oder Fitnessstudios gefüllt. Oder, wie bei Marchand und Meffre, von Basketballplätzen, Bus-Depots und Kaufhäusern.

Doch es bleibt eine Wunde. Der brasilianische Filmemacher Kleber Mendonça Filho will sie mit seinem neuen Dokumentarfilm Retratos Fantasmas sichtbar machen. Er ergründet, was diese Leerstelle im Herzen seiner Heimatstadt bedeutet. In drei großen Kapiteln führt er durch Vergangenheit und Gegenwart von Recife, einer Millionen-Metropole im Nordosten des Lands. Die Geschichte der Stadt ist eng mit seiner eigenen verknüpft.

Im ersten Kapitel („The Setúbal Apartment“) präsentiert er die Wohnung seiner Kindheit, die gleichzeitig auch für sein Heranreifen als Filmemacher steht. In Ausschnitten werden erste kinematographische Gehversuche gezeigt, charmante Horror- und Actionsequenzen, die sich in späteren Genre-Versuchen wie Bacurau niedergeschlagen haben. Sein Kino war immer schon stark von Räumlichkeiten und Architektur geprägt. In den ebenfalls dreigeteilten Filmen Neighbouring Sounds und Aquarius sind dieselbe Wohnung und das Viertel, in dem sie liegt, zentrale Protagonisten. Immobilen, die mal metaphorisch, mal ganz konkret umkämpft sind und sich mit ihren Bewohnern verändern. 

Parallel dazu wird die Politisierung des Regisseurs nacherzählt. Zentral ist dafür seine Mutter Joselice Jucá. In einer Archivaufnahme wird die Historikerin zu einem Projekt über Joaquim Nabuco befragt, einen der wichtigsten Vorkämpfer gegen Sklaverei in Brasilien. Kleber Mendonça Filho wird 1968 geboren und erlebt als Kind das Ende der Militärdiktatur in Brasilen und die Nova República. Bis zum Tod der Mutter fiebern sie gemeinsam jeder Wahl entgegen. 

Das Privatpolitische ist für ihn jedoch immer nur der erste Schritt. Seine Filme dehnen sich aus. Im zweiten Kapitel („The Cinemas of Downton Recife“) zieht es ihn in die Innenstadt. Da sind die Kinos, vor allem aber sind dort die Menschen. Er filmt ein großes Fest, zu einer Fläche verschwimmende Tänzer, die Euphorie des Massenmosaiks. Und zeigt Archivmaterial von vollen Kinopalästen. Sie tragen klangvolle Namen wie Art Palácio, Moderno und Trianon, wir sehen Premieren, Spät- und Matineevorstellungen. Die Stadt ist bei ihm eine Art Apartment der Gemeinschaft, Ausdruck einer kollektiven Innerlichkeit, und damit inhärent politisch. Er zeigt die Nachrichtenberichte und Home Movies als Entsendungen aus einer Zeit, als das Kino noch eine Massenkultur war. Die Schlangen vor den Kassenhäusern sehen aus wie Demonstrationen, jede Markise ist ein Protestplakat.

Bei den Fotografien von Marchand und Meffre steht oft der fließende Übergang zwischen altem Prunk und Gegenwartstrivialität im Mittelpunkt. Architektonische Utopien weichen kapitalistischem Realismus. Menschen spielen in dieser Ordnung kaum eine Rolle. Filho hingegen geht es nie primär um diese humane Leerstelle. Abwesenheit ist für ihn immer Potenzialität – was nicht da ist, kann zurückkommen.

Vielleicht kann man Geister im Kino in zwei Kategorien unterteilen. So wie es Schnitte gibt, die das vergehende Bild betonen, und solche, die das neu entstandene hervorheben, gibt es im Kino Geister, die vom Verlust erzählen, und solche, die das Überdauern unterstreichen. Die Retratos Fantasmas sind Ideen, die sich nie ganz beseitigen lassen.

Kleber Mendonça Filho begleitet den ganzen Film mit einem Voiceover. Es wirkt wehmütig, mit voranschreitendem Alter häufen sich auch immer die Verluste an. Wir leben in nostalgischen Zeiten – wobei die Frage natürlich ist, was man mit der eigenen Nostalgie anfängt. Retratos Fantasmas hat sicher eine melancholische Note, doch es überwiegt eine spielerische Freude. In der Montage wird der starre Verlauf der Zeit aufgehoben. Bild- und Massenmosaik finden zusammen, sind gleichermaßen vielstimmig, bunt und chaotisch. Wild werden Aufnahmen von VHS, Betacam, Hi8 und MiniDV, Tonaufnahmen und Fotografien vermengt. So entsteht auch eine Geschichte der Kameratechniken und Trägermedien. Es scheint immer eine Beziehung zwischen der zeitgenössischen Technologie und dem jeweiligen Stadtbild zu geben, so als würde eine neue Skyline immer auch nach einer neuen Kamera verlangen, die sie wirklich in Szene setzen kann.  

Kleber Mendonça Filho gebraucht seine Nostalgie, um durch die Sehnsucht nach Verlorenem aus der Perspektive der Gegenwart herauszutreten. Das Verschwinden der alten Kinos und das Verschwinden einer bestimmten Art von politisierter Öffentlichkeit hängen für ihn unmittelbar zusammen. Eines der Bilder aus „Movie Theaters“ zeigt das Loew‘s Valence Theater in New York, das 1977 als Kirche wiedereröffnet wurde. „Tabernacle of Prayer“ verkündet die Markise, und direkt darunter „Welcome to the Center of Hope“. Auch Filho beschreibt im dritten und letzten Kapitel seines Films („Churches and Holy Ghosts“) die Verwandlung von Kinos in Kirchen. Manchmal ganz konkret – die religiöse Rechte gewinnt an Einfluss in Brasilien und übernimmt Räume, die vorher den Träumern gehört haben. Aber auch abstrakter, denn Kinos und Kirchen versprechen beide etwas Größeres. Eine bestimmte Art von Gemeinschaft, vielleicht sogar Transzendenz. Für Retratos Fantasmas ist jedes Kino ein „Center of Hope“. Vor der Leinwand sind wir weniger allein.

Gesehen bei der Viennale 2023.

Retratos Fantasmas (2023)

In seinem Dokumentarfilm „Retrato Fantasmas“ kehrt der brasilianische Filmemacher Kleber Mendonça Filho anhand von Amateurfilmen und alten Super-8-Aufnahmen in die Stadt und die Kinosäle seiner Kindheit zurück. Mit seiner Stimme, die aus dem Off ertönt, webt er eine urbane, verträumte Poesie rund um die Lust am Kino und dessen evozierende Kraft. (Quelle: Arte)

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