Log Line

Regisseur Dieu Hao Do versucht, die zerrüttete Geschichte seiner aus Vietnam vor dem Kommunismus geflohenen Familie aufzuarbeiten, indem er seine auf der ganzen Welt verteilten Verwandten aufsucht und mit Fragen über die Vergangenheit konfrontiert.

Hao Are You (2023)

Eine Filmkritik von Patrick Kittler

Durchbrechen der Geschichtslosigkeit

„Deutsche mögen keine Familiengeschichten.“ Es ist schon durchaus etwas an der These dran, die der Sohn russisch-tschechisch-armenisch-jüdischer Immigranten, Maxim Biller, in seinem Essay „Deutscher wider Willen“ vertritt, oder wer kann sich an die letzte große filmische Familienchronik nach 1945 erinnern? „Keiner – aber wirklich keiner – meiner deutschen Freunde erzählt jemals etwas über seine Familie, keiner spricht darüber, wo seine Wurzeln sind, welche Tragödien, welche Komödien seine eigene Familie zur allereigensten, allerbesondersten Familie der Welt gemacht hat“, schreibt Biller. Die Deutschen, denen er begegne, „sind völlig eindimensionale Wesen, die über das Heute plappern, über (…) Kinderkriegen, über Designermöbel, den Techno-Hype und das neue vietnamesische Lokal bei ihnen um die Ecke. Das Gestern aber interessiert sie offenbar nicht, sie verstehen sich nicht als eine Kette, sie begreifen sich nicht als Fackelträger einer auf faszinierende Weise in die Vergangenheit zurückreichenden Tradition.“

Das verwundert aufgrund der Nazi-Vergangenheit vieler deutscher Familien auch nicht, merkt Biller im Weiteren an. Dieu Hao Dos autobiographischer Dokumentarfilm Hao Are You ist auch wieder ein migrantischer Beitrag, in diesem Fall über die chinesisch-vietnamesische Familiengeschichte des Regisseurs, der den deutschen Filmemachern zeigt, was das Totschweigen anrichtet und weshalb diese Geschichten, seien sie noch so grausam und erniedrigend, erzählt werden müssen.

Dieu Hai Do arbeitet sich mit einem assoziativen Schnitt, in thematisch getrennten Blöcken, an seiner Familiengeschichte anhand von Gesprächen mit seinen Verwandten ab. Seine Mutter und ihre sechs Geschwister wurden durch den autoritär-kommunistischen Umsturz, vor dem sie schon aus China geflüchtet sind, aus Vietnam vertrieben. Die Schicksalsträger aber verteilten sich in alle Himmelsrichtungen, und so wurde aus einer eigentlichen Schicksalsgemeinschaft ein erbitterter Lebenskampf zorniger Einzelgänger, die sich selbst 50 Jahre nach den tragischen Ereignissen wegen derselben familieninternen Lappalien und Anschuldigungen an die Gurgel gehen.

Dos Film ist geprägt von einer Atmosphäre des aufrichtigen Verstehenwollens, und zwar in zweierlei Hinsicht: die eigene dysfunktionale Familie nachvollziehen zu können, aber auch, was aus der fernen Heimat der Familie nach Deutschland mitemigriert ist. Denn im Verlauf des Films wird deutlich: Do ist zwar in Deutschland aufgewachsen, aber Spuren des Traumas der Entwurzelung und die alten, verknöcherten, kalten Familienstrukturen sind trotzdem geblieben. Statt sich also nach Lehrbuch zu integrieren und seine eigene Herkunft zu leugnen, versteht Do, dass das eigene Verständnis von sich selbst, ohne ein Verstehen der sozialen Prägung der Familie, die einen geprägt hat, nicht möglich ist.

Filmisch interessant ist die Doku aber nur bedingt. Zu sehr ist sie durchsetzt von einer geradezu pädagogischen Distanz, und hier hätte man sich gewünscht, die leidenschaftliche Stimme des Autors stärker zu spüren. Do ist wie in der Handlung der Doku selbst so sehr bemüht, alle Familienpole so unvoreingenommen miteinander zu vereinen, dass nicht wirklich klar wird, was er eigentlich erzählen will. Man verliert irgendwann die Übersicht, wer hier jetzt mit wem zerstritten ist, bis die Doku fast reißerisch privat wird. Es ist zwar eindrucksvoll zu sehen, wie verletzlich und empfindlich die einzelnen Familienmitglieder immer noch sind, wie sie nichts verzeihen können, immer noch getrieben von ihrem Lebensfrust sind, und wie deutlich wird, was das kollektive Schweigen bei allen angerichtet hat, jedoch: Es wirkt ein wenig zu privatistisch.

Noch mehr historischen, gesellschaftlichen Kontext und mehr Infos zu den gesellschaftlichen Bedingungen sowie mehr persönliche Eindrücke der Betroffenen dazu hätten der Doku einen stärkeren emotionalen und politischen Kern gegeben. Ein Versäumnis ist leider sicherlich auch, dass die entfremdende Migrantenerfahrung in Deutschland hier, trotz des Anschlags auf die vietnamesischen Flüchtlingsunterkünfte in Rostock 1992, leider gar keine Rolle spielt. Zumal Do leider kein besonders begabter Erzähler im Voice-Over ist, sodass insgesamt der emotionale Schmerz, der hier an einigen Stellen erahnbar ist, nicht greifbar genug wird.

Filmische Poesie hat Dos Film aber letztlich doch zu bieten. Denn während seine Verwandten ihre bewegten Lebensgeschichten schildern, schneidet Do Bilder von ihnen aus ihrem gegenwärtigen Alltag assoziativ dazwischen. Der eine Onkel kauft in Hongkong ein, die eine Tante arbeitet im Garten, der andere Onkel wischt fanatisch den Boden seines Zimmers, als wäre er immer noch im Umerziehungslager in Vietnam. Sprich: banaler Alltag.

Was Do damit schafft, ist darin deutlich zu machen, dass diese in ihrem Tun so normal und alltäglich, nicht weiter bemerkenswert wirkenden Menschen, sobald man ihnen die richtigen Fragen gestellt, einem eine Welt der Erinnerung eröffnen, die reicher und wertvoller ist, als sie es vielleicht selbst wissen und glauben. Do schöpft auch für sich von diesen Erzählungen, muss aber am Ende, bei einem Versuch der Familienzusammenführung, erkennen, dass alle Beteiligten zu viel Zeit verstreichen haben lassen.

Sie alle erzählen sich mehr oder weniger dieselbe Geschichte: Der Kommunismus habe alles zerstört. Weil sie nie wirklich in Austausch kamen, blieb das auch so. Alle fraßen das Vergangene in sich hinein, sodass es nie verging, und merkten dabei nicht, dass diese Familie schon vorher nicht gelernt hatte zusammenzuhalten und die systemischen Umstände den vorhandenen zwischenmenschlichen Sprengstoff nur noch entzünden mussten.

Do erreicht das Happy End nicht, das er zu Beginn in Aussicht hatte. Aber so wie jede gewinnbringende Reise anders endet als geplant, erkennt auch Do: Vielleicht ist die ältere Generation nicht mehr wirklich lernfähig, aber genau aus ihrer Unfähigkeit, kann er als neue Generation zumindest klarer denn je erkennen, wie er nicht enden möchte, individuell, familiär wie auch gesellschaftlich. Und dafür lohnt sich der Blick zurück allemal.

Hao Are You (2023)

Seine Mutter beschuldigt den Kommunismus, sein Onkel macht einen Erbstreit verantwortlich, der Rest verfällt in Schweigen: Dieu Hao Do erforscht die Zersplitterung seiner Familie, die 1975 wie 1,5 Millionen andere Vietnamesen ihre Heimat verlassen musste und seitdem nicht mehr miteinander spricht.

  • Trailer
  • Bilder

Meinungen