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Was tun, wenn die Gesellschaft dramatisch altert? In einem Japan der nahen Zukunft soll ein neues Gesetz Menschen ab 75 dazu bewegen, freiwillig in den Tod zu gehen. Chie Hayakawas nüchtern-beobachtendes Regiedebüt findet in einer dystopischen Geschichte unerwartet Platz für Hoffnung und Humor.

Plan 75 (2022)

Eine Filmkritik von Christopher Diekhaus

Sterben für die gute Sache

Wenn wir uns unsere Geburt schon nicht aussuchen können, dann doch bitte den Moment unseres Todes. Das Sterben als letzter großer Akt der Selbstbestimmung und als Wohltat für die Gemeinschaft. Auf diese Weise wird in Chie Hayakawas Regiedebüt „Plan 75“ für das gleichnamige von der Regierung auf den Weg gebrachte Programm geworben, das der gravierenden Überalterung der japanischen Gesellschaft in einer nahen Zukunft entgegenwirken soll. Menschen, die das 75. Lebensjahr erreicht haben, können ein umfangreiches Dienstleistungspaket in Anspruch nehmen, wenn sie sich entscheiden, einen Schlussstrich zu ziehen. Beerdigung, Auflösung des Mietverhältnisses, etc. – alles wird organisiert, begleitet. Ein Kundenservice, wie man ihn sich nur wünschen kann. Mit dem Haken, dass alle Vorbereitungen auf die letzte Reise abzielen. 

Die Welt von Plan 75 ist bloß einen kleinen Schritt von der unseren entfernt und spitzt die schon jetzt hochgradig drängende Frage nach dem Zusammenhalt der Generationen angesichts stetig wachsender Systembelastungen zu. Wie soll die Gesellschaft vor dem Hintergrund von Klimaproblemen und Ressourcenknappheit funktionieren, wenn die Zahl der alten, häufiger hilfsbedürftigen Menschen stetig zunimmt? Kann der soziale Frieden aufrechterhalten werden? Oder kommt es zu einem irreparablen Bruch? In Hayakawas Film scheint die Not groß zu sein. Nicht umsonst heißt es in den ersten Minuten, dass Übergriffe auf betagte Bürger*innen massiv zugenommen hätten. Die Einheit bröckelt gewaltig – weshalb mit großem Pathos der Heldentod beschworen, an die lange Geschichte der persönlichen Opfer für die Nation erinnert wird. Alle, die 75 und älter sind, können Teil einer neuen Erfolgsstory sein. So der Tenor.

Interesse für die staatlich abgesegnete assistierte Sterbehilfe zeigt eine Frau namens Michi (Chieko Baisho), die mit 78 ihren Job verloren hat und plötzlich ohne Aussicht auf eine Gesundheitsversorgung dasteht. Ihr Leben ist festgefahren, ein Weg aus dem Tunnel nicht mehr zu erkennen. Obwohl sie eigentlich noch keinen Gedanken ans Abtreten verschwenden will, holt sie Informationen ein und lässt sich vormerken für Plan 75. Beratend zur Seite steht ihr dabei die Telefonistin Yoko (Yumi Kawai). Während Michi dem Tod langsam entgegensieht, kommt der eifrige, für das Programm arbeitende Hiromu (Hayato Isomura)  ins Grübeln, als sein Onkel Yukio (Taka Takao) im Büro aufkreuzt. Die fünfte Figur, die eine prominentere Rolle spielt, ist die philippinische Pflegekraft Maria (Stefanie Arianne). Da sie für ihre kranke Tochter dringend Geld benötigt, sieht sie in einem Jobangebot von Plan 75 eine große Chance und greift ohne Zögern zu.

Auch wenn am Ende des Prologs ein Gewaltakt steht und Hayakawas Stoff durchaus die Möglichkeit eröffnet, einen dystopischen Thriller im Stile der deutschen Netflix-Produktion Paradise anzuschieben, wählt die Regisseurin einen komplett anderen Ansatz. Plan 75 ist ein ruhiger, nüchtern-beobachtender, in langen, oft starren Einstellungen erzählter Film, der zuweilen eine gewisse Distanz zu seinen Protagonist*innen wahrt. Musik kommt kaum zum Einsatz. Dramatische Ausschmückungen haben Seltenheit. Erst im Finale steigert Hayakawa ein wenig das Tempo und die Spannung.

Es braucht Geduld, um Zugang zum Geschehen zu finden. Dockt man aber einmal an, fällt auf, wie geschickt Plan 75 dem Gefühl der Resignation, der Isolation, der Ratlosigkeit kleine Hoffnungsschimmer, Augenblicke stiller Komik gegenüberstellt. Bedrückend und etwas absurd zugleich wirken bereits die Beratungsgespräche für das Programm – als wäre es das Normalste der Welt, den eigenen Tod trotz fehlender körperlicher Gebrechen bis ins Detail zu planen. Lebensfreude versprühend sind jene Szenen, die Michi inmitten ihrer Freundinnen beim Karaoke zeigen. Symbolkraft haben auch die wiederkehrenden Bilder der alten Frau, wie sie, ihre Hand schützend vor die Augen haltend, der Sonne entgegenblickt. Es lohnt sich, genau hinzuschauen, sich auf den bedächtigen Rhythmus des Films einzulassen. Denn immer wieder gibt es Momente, die gerade in ihrer Zurückhaltung ungeahnte Wucht entfalten.

Plan 75 (2022)

Im Japan der nahen Zukunft soll das Regierungsprogramm „Plan 75“ die älteren Einwohner:innen dazu bringen, sich als Gegenmaßnahme gegen eine rasant alternde Gesellschaft freiwillig töten zu lassen. Eine ältere Frau, deren Lebenswillen schwindet, ein pragmatischer Vertreter von „Plan 75“ und ein philippinischer Arbeiter sehen sich Fragen von Leben und Tod ausgesetzt.

 

 

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