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Franz Rogowski spielt einen verfolgten Jenischen während des Zweiten Weltkriegs. Leider vergisst Regisseur Giorgio Diritti über dem Leidensweg seines Protagonisten Form und Herz seiner Narration.

Lubo (2023)

Eine Filmkritik von Patrick Fey

Im dramaturgischen Niemandsland

Gleich in mehrerlei Hinsicht ist dem gebürtigen Bolognesen Giorgio Diritti mit „Lubo“ Bemerkenswertes gelungen. Gleich in der ersten Szene lässt er Franz Rogowski in einem Bärenkostüm durch die Straßen eines Graubündner Marktplatzes tanzen, nur um ihn alsbald zu Boden sinken und im Crossdressing tanzend aus dem Bärenbauch steigen zu lassen.

Bemerkenswert ist diese Szene nicht nur aufgrund Rogowskis einnehmenden Schauspiels, sondern weil sie so sehr im Kontrast steht zu den übrigen immerhin 170 Minuten Laufzeit, in denen Rogowski zur vermutlich fadesten Rolle seiner bisherigen Karriere verdammt ist. Es dürfte nur wenig andere Pressevorführungen während der 80. Mostra von Venedig gegeben haben, bei der sich die internationalen Pressevertreter*innen in solcher Einigkeit ein Nickerchen zugestanden haben. Und dann ist Lubo auch dahingehend hervorzuheben, dass er wie kaum ein anderer Wettbewerbstitel der 2023er Biennale die eigene Prämisse aus den Augen verliert, was angesichts des Themas – der Marginalisierung und Verfolgung der Jenische – von unglücklicher Ironie ist.

Die Jenische sind, wie es im Schweizerischen heißt, eine heterogene Armutsgesellschaft in Mittel- und Westeuropa. Diese wurde im Lauf der Geschichte von den Feldern der Politik und der Ökonomie sowie dem sozialen Leben ausgeschlossen. Besonders während des 2. Weltkriegs, als den Eidgenossen eine Invasion durch Nazideutschland drohte, waren es marginalisierte Populationen wie die Jenische, deren Menschlichkeit zuerst zur Disposition gestellt wurde.

So ergeht es auch Rogowskis titelgebender Figur Lubo, die im Jahr 1939 zum Wehrdienst eingezogen wird und dadurch gezwungen ist, Frau und Kinder zurückzulassen. Als er während seines Pflichtdienstes erfährt, dass seine Frau Klara (Cecilia Steiner) ermordet und seine Kinder in soziale Einrichtungen verschleppt wurden, begibt sich Lubo unter falscher Identität auf eine dekadenspannende Suche nach seinen Kindern.

Angesichts dieser historisch bedeutsamen und dramaturgisch mitreißenden Prämisse gerät Dirittis italienisch-schweizerische Koproduktion zu einem Drama, das sich zugleich zu stark und zu wenig an seiner Hauptfigur interessiert zeigt. Denn obgleich Lubo während der gesamten Laufzeit im Zentrum der Geschichte steht, endet seine Individualisierung in der getriebenen Suche nach seinen Kindern. Dass er sich, nachdem er dem Militär flieht und sich durch einen Raub eines beträchtlichen Vermögens annimmt, unter falscher Identität als Philanthrop in die Gemeinde einzubringen versucht (nach Transit spielt Rogowski hier also erneut einen staatenlosen Geflüchteten), wirft auf dem Papier interessante rechtsphilosophische Fragen auf: Ist ein Unrecht in einem ungerechten System gerecht? Allerdings bemüht sich Diritti nicht um eine weiterführende Charakterisierung seines Protagonisten.

Auch die Makroebene, der politische sowie historische Kontext, innerhalb dessen Jenische, Sinti, Roma und viele anderen marginalisierten Volksgruppen systematisch verfolgt wurden, gerät zur bloßen, historischen Tapete. Eine erkenntnisreiche Auseinandersetzung mit den politischen Gegebenheiten, die Schicksalen wie dem Lubos den Boden bereiteten, findet nicht statt. Auf diese Weise zugleich zu nah und zu weit entfernt von seinem Thema und titelgebenden Subjekt, manövriert Diritti seine lose auf Mario Cavatores Roman Il Seminatore basierende Geschichte in ein dramaturgisches Niemandsland.

Nur in wenigen Momenten werden uns Einblicke in die von Xenophobie und Rassismus durchzogene Mehrheitsgesellschaft gewährt, etwa, als eine Vorführung von Leni Riefenstahls Olympia zahlreiche der anwesenden Zuschauer*innen zum Hitlergruß motiviert. Auch die sich für die Kinderstiftung Pro Juventute einsetzende Elsa, mit der Lubo aus rein pragmatischen Gründen eine Affäre eingeht, reproduziert nach der Vorführung trotz ihres liberalen Auftretens fremdenfeindliche Diskurse von „schmutzigen und verbrecherischen“ Minderheiten. Wenig überraschend ist sie fortan auch in der Lage, das Euthanasieprogramm Nazideutschlands zu rationalisieren und in ihnen eine legitime, ja notwendige, politische Maßnahme auszumachen.

Wie schon in dem auf der Berlinale 2020 angelaufenen Hidden Away zeigt sich Diritti erneut primär am Leidensweg seines Protagonisten interessiert und vergisst darüber nicht nur die Form, sondern auch das Herz seiner Narration. Kaum scheinen ihm etwa die politischen Umstände Lubos von Belang, die diesen überhaupt erst in seine prekäre Rand-Existenz treiben. Freilich ist es nicht an Diritti, dieses wenig beachtete Kapitel der eidgenössischen Geschichte für die große Leinwand didaktisch aufzubereiten. Umso wichtiger wäre es da, Lubo in seiner widersprüchlichen Komplexität zu erfassen, um aus der Individualerfahrung ein umfassendes Epochenbild zu zeichnen, das in der Lage ist, die singuläre Erfahrung zu übersteigen. Stattdessen jedoch verliert sich Diritti zunehmend in Lubos Liaisons mit Frauen des Geld-Adels, die er benutzt, um an Informationen über seine entführten Kinder zu gelangen.

Wenn Diritti sich während der den Film beschließenden letzten Minuten noch einmal seiner Ausgangslage erinnert – Lubos entführte Kinder – müssen es dann folgerichtig auch Texttafeln sein, die uns über die Verbrechen des „Hilfswerks für die Kinder der Landstrasse“ informieren. Dieses durch die „Pro Juventute“-Stiftung initiierte Projekt hat im 20. Jahrhundert mehrere hunderte marginalisierte Kinder (vornehmlich aus jenischen Familien) entführt und „umerzogen“.

Die Tatsache, dass zahlreiche Pressekolleg*innen in Venedig den Film bis zu diesem Zeitpunkt verschlafen haben, birgt dahingehend eine letzte Pointe: Was, wenn sich vor ihrem inneren Auge ein Drama abgespielt hat, das auf virtuose Weise Lubos qualvolle Odyssey mit der strukturellen Unterdrückung der Jenischen in einen Zusammenhang gebracht hat, der all jenen, deren Augen auf die große Leinwand fixiert war, notwendigerweise entgehen musste.

Lubo (2023)

Lubo, ein Nomade und Strassenkünstler, wird 1939 in die Schweizer Armee einberufen, um die Landesgrenzen vor der Gefahr einer deutschen Invasion zu schützen. Kurz darauf erfährt er, dass seine Frau beim Versuch, die Gendarmen daran zu hindern, ihre drei kleinen Kinder mitzunehmen, umgekommen ist. Die jenischen Kinder wurden der Familie im Zuge des nationalen Umerziehungsprogramms für Strassenkinder (Hilfswerk für Kinder der Landstrasse) entrissen. Für Lubo steht fest, dass er nicht eher ruhen wird, bis er seine Kinder wiedergefunden und Gerechtigkeit für sich und all jene erlangt hat, die — wie er — anders sind. (Quelle: Swiss Films)

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