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Ein Bistro in Paris, scheinbar aus der Zeit gefallen und doch eine wichtige Bastion gegen den zunehmenden Zerfall unserer westlichen Gesellschaften: Die Dokumentarfilmerin Daniela Abke porträtiert in poetischen Bildern sechs starke Charaktere und ihren Treffpunkt in einem Viertel voller Leben.

Belleville. Belle et rebelle (2021)

Eine Filmkritik von Peter Gutting

Es lebe die Kommune

Über Paris kann man nicht sprechen, ohne auch die Fantasie einzubeziehen. Sehnsüchte, Projektionen und Wunschträume legen sich über die Wirklichkeit der Stadt, die so oft besungen, gefilmt und zu Literatur verdichtet wurde. Aber was wäre, wenn man einen Ort finden könnte, an dem all das real wäre: die Chansons, die Geselligkeit, die Kunst zu leben? Die Dokumentarfilmerin Daniela Abke, die eine Zeit lang in der französischen Hauptstadt lebte und arbeitete, hat genau das aufgespürt: ein Bistro im traditionell linken Stadtteil Belleville, in dem sich Freigeister und Originale die Klinke in die Hand geben, zusammen mit Menschen wie du und ich in einem von Einwanderern geprägten Viertel.

Ein Abend mit Musik. Dicht gedrängt sitzen die Gäste des Bistros „Vieux Belleville“ an den Tischen. Ein Glas Wein vor sich und ein Blatt mit Liedtexten in der Hand singen sie aus vollen Kehlen Bella Ciao, das Kampflied der Arbeiterklasse. Heute Abend sorgt Minelle für Unterhaltung. Mit dem Akkordeon vor dem Bauch tänzelt die ehemalige Sportlehrerin durch die engen Tischreihen. Kein Mund bleibt geschlossen, kein Gemüt unbewegt während der musikalischen Einlage, bevor das Essen serviert wird. Jung und Alt sind versammelt, keineswegs nur politische Aktivisten, sondern „normale“ Leute aus einem Viertel, dessen revolutionäre Vergangenheit allerdings Spuren hinterlassen hat. „Vive la commune“ ist in eine Hauswand eingeritzt, in Erinnerung an den Arbeiteraufstand der „Pariser Kommune“ 1871, der libertär gesonnenen Sozialisten bis heute als Modell einer basisdemokratischen Räterepublik gilt, ohne Bevormundung durch Partei oder Staat.

Lucio Urtubia, der aus dem Baskenland emigrierte Anarchist, kann viel erzählen über die Pariser Kommune. Der fast 90-Jährige trifft noch immer die hohen Töne, wenn er das Kommune-Lied von der Zeit der Kirschen (Le Temps des Cerises) singt und die Filmemacherin auf den nahen Friedhof führt, wo in der Nähe von Edith Piaf die Kämpfer und Liederschreiber von damals begraben liegen, Jean-Baptiste Clément etwa oder Louise Michel, in deren Namen Lucio ein kleines sozio-kulturelles Zentrum betreibt. Der stets freundliche ältere Herr mit der Baskenmütze ist Stammgast im „Vieux Belleville“, dessen Betreiber Joseph selbst ein Original ist, mit seinem Charme und seiner nicht nachlassenden Energie eine Café- und Bistrokultur am Leben zu erhalten, die irgendwie aus der Zeit gefallen zu sein scheint. Hier kommt die Nachbarschaft noch zusammen, um zu feiern, zu essen und zu trinken, aber vor allem, um Chansonniers und Bänkelsänger zu hören, mit ihnen zu singen und zu ihren Walzern zu tanzen. Und das in einer Zeit, in der Vereinzelung und Zersplitterung aufgrund des technologischen Wandels kaum mehr aufhaltbar zu sein scheinen. Man könnte das nostalgisch nennen, wenn es nicht so wichtig wäre als aktueller und funktionierender Gegenentwurf zum fortschreitenden Zerfall des gesellschaftlichen Zusammenhalts.

Schon in den ersten Filmminuten ist nicht zu übersehen, dass Daniela Abke ihre Protagonistinnen und Protagonisten nicht einfach nur auf klassische Weise porträtieren möchte. Sondern dass sie dem von Künstlern geprägten Alltag des „Vieux Belleville“ einen kunstvollen Film widmen möchte. Die spannungsreich komponierten Bilder von Bistro und Viertel (Kamera: Isabelle Casez) wirken wie ein Reigen wirkungsvoll gerahmter Tableaus und zum Teil auch wie eine Verbeugung vor den Spielfilmen, die in Belleville gedreht wurden, etwa Goldhelm (1951) von Jacques Becker. Schon zwei grundlegende formale Entscheidungen rücken Belleville. Belle et rebelle weg von der klassischen Dokumentation und hin zum Essay: zum einen das zeitlos wirkende, kontrastreich leuchtende Schwarz-Weiß, zum anderen das Breitbandformat, das die Porträtierten immer zugleich in den sozialen und stadtgeschichtlichen Kontext rückt, sie nie nur als vereinzelte Individuen betrachtet.

Trotzdem sind es gerade die starken Persönlichkeiten von sechs Stammgästen und Unterstützern des Musik- und Tanzbistros, die dem Film innere Substanz und nicht bloß schöne Oberfläche verleihen. Neben Minelle, Lucio und Joseph sind dies Robert, Schriftsteller und einst Regieassistent von Truffaut, zudem Drehorgelspieler Riton sowie Bistro- und Wandmaler Steven. Von einigen hätte man gern ein bisschen mehr erfahren, wie sich der Film überhaupt mit Hintergrundinformationen stark zurückhält. Auch die aktuelle soziale Konstellation des Viertels kommt zu kurz, da sich die Porträtierten allesamt mit der Vergangenheit beschäftigen: mit früheren politischen Kämpfen, mit der Archivierung des einstigen Straßenbildes vor einer Abrissaktion oder mit der Bewahrung der traditionellen Bänkelsängerkultur. Dass die Regisseurin keine externen Experten zu Wort kommen lässt, ist sicher eine kluge Entscheidung, denn dies hätte die konsequente Stilisierung zerstört. Aber wenigstens ein paar informative Schrifttafeln hätte man im sanft fließenden Rhythmus der Bilder unterbringen können, vor allem für Zuschauerinnen und Zuschauer, denen Paris nicht so vertraut wie eine zweite Heimat ist.

Belleville. Belle et rebelle (2021)

Paris, Belleville: ein letztes Café Musette. Charmant, bezaubernd, eigenwillig, wie die sechs Charaktere, deren Wege sich hier kreuzen. Reale Poesie und populäres Chanson. Unbeugsam, unbändig, zeitlos. Französische Geschichte, die trotzt und fortbesteht. Anhand einer Straßenecke portraitiert der Film ein Quartier, das dem Fremden ein Zuhause geworden ist. Geprägt von den Migrationen der letzten Jahrhunderte, von Handwerk und Revolte, singt uns Belleville seine Lieder von Liebe und Kampf. Fotografie in schwarz/weiss. Bilder wie ein Chanson. „Belleville belle et rebelle“ portraitiert sechs außergewöhnliche Bewohner von Belleville, dem Pariser Einwandererviertel par excellence

(Quelle: Coccinelle Film)

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