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Wie reinigt und saniert man ein Atomkraftwerk? Diesen gefährlichen Job erledigen in der Nuklearnation Frankreich die „Atomnomaden“, die sich einem hohen gesundheitlichen Risiko aussetzen.

Atomnomaden (2023)

Eine Filmkritik von Simon Hauck

Parallelwelt AKW

„In fünf Jahren sind wir fast 40, dann wär‘ ich gerne fertig damit. Dann ist diese Geschichte beendet.“ – „Endlich frei sein.“ – „Ein kleines Grundstück, autonom leben.“ Die Hoffnung der Atomnomaden auf ein finanziell besseres Leben ist in Kilian Armando Friedrichs und Tizian Stromp Zargaris gleichnamigem Dokumentarfilm, der innerhalb der Berlinale-Sektion „Perspektive Deutsches Kino“ uraufgeführt wurde, von Beginn an unendlich groß.

Denn viele dieser mehrheitlich jungen Männer um die 30 wollen vor allem sozial aufsteigen und sich wie in ihren Partnern und Familien in naher Zukunft ein eigenes Grundstück mitsamt Haus und Garten ermöglichen. Und überhaupt möglichst viel persönliche Freiheit erreichen, damit deren Kinder und Kindeskinder in Zukunft nicht mehr von halbseidenen Subunternehmern abhängig sind, um so ein eigenständiges Berufsleben beginnen können.

Dafür riskieren jene Männer, Frauen sind hier deutlich in der Minderheit, die in den Atommeilern als Maler, Klempner, Elektriker oder Reinigungskräfte beschäftigt werden, nichts weniger als ihre Gesundheit. Schließlich findet die Wartung der nicht selten veralteten Atomkraftwerke im Schichtbetrieb und unter extremen Arbeitsbedingungen statt: Manche von ihnen haben bereits zur Mitte des Monats eine überproportionale hohe Strahlenmenge abbekommen. Und arbeiten trotzdem für zusätzliche Nachtschichtzuschläge oder Wochenenddienste unaufhörlich weiter, bis dieser Arbeitswahnsinn an anderer Stelle wieder von vorne beginnt: Denn eine Festanstellung bekommt niemand von ihnen ernsthaft angeboten.

Das Gros dieser Arbeiter war früher entweder arbeitslos oder in Fabriken beschäftigt. Aber für hohe Monatslöhne zwischen 4000 bis 6000 Euro und weitere Prämienangebote seitens der Atomlobby und ihren Personalvermittlungsfirmen nehmen es die meisten von ihnen in Kauf, ständig erreichbar wie verfügbar zu sein und immer wieder hunderte Kilometer im Wohnmobil bis zum nächsten Einsatzort zurückzulegen. Dass sie dabei weder ihre Partner*innen besonders viel sehen, noch erleben können, wie ihre Kinder aufwachsen, ist der zusätzliche Preis für ihre außergewöhnliche Arbeitsleistung.

Kilian Armando Friedrichs und Tizian Stromp Zargaris Stärke als Dokumentarfilmemacher liegt darin, dass sie unkommentiert, sensibel und gleichzeitig außerordentlich authentisch in die Seele ihre Protagonist*innen blicken. Ob zwischen nebelverhangenen Unorten in Sichtweite der AKWs oder in den schlichten Interieurs jener Camper und Wohnmobile: Hier sitzt der Zuschauer quasi mit am Tisch, wenn offen über Ängste und Nöte genauso wie über Zukunftswünsche debattiert wird.

Oder sich in den allabendlichen Videotelefonaten zum wiederholten Mal manche innerfamiliäre Spannungslage offenbart, weil der männliche Haupternährer für den anderen Familienteil eben nur so selten wirklich greifbar ist. Unter Dauerstress, Müdigkeit und permanenter Strahlungsbelastung leidend sind sie im Grunde diejenigen, auf deren Rücken die Wartung aller derzeit 56 aktiven Atomkraftwerke der Grande Nation am meisten lastet.

Diesen stillen Helden des Alltags danken die beiden Münchner Filmstudenten im Abspann ihres beeindruckenden Dokumentarfilms ausdrücklich. Denn andernfalls wäre in anderen EU-Ländern längst der Strom ausgegangen, wenn wieder einmal ein Engpass im komplizierten Energienetz entstanden ist. Atomnomaden ist in der Summe ein ebenso erschreckender wie spannungsreicher Einblick in eine verborgene Schattenwirtschaft neoliberaler Widerwärtigkeit. Schließlich hängt eine Frage als Damoklesschwert über dem Schicksal jedes einzelnen Protagonisten: Habe ich überhaupt eine Zukunft?

Atomnomaden (2023)

Beim Säubern von Atomreaktoren sind französische Arbeiter*innen starker Strahlung ausgesetzt. In beeindruckenden Bildern porträtiert der Film die in Wohnwagen von AKW zu AKW reisenden „Atomnomaden“, die im Namen der Zukunft ihre Gesundheit aufs Spiel setzen.

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